Der preußisch (bayrische) Staat als Grubenherr und Arbeitgeber
Das Saarland als preußische Industriekolonie
Trotz allem zog das Saarland in der Mitte des 18. Jahrhunderts Zehntausende an wie ein Magnet. Rauch. Ruß und Gestank der entstehenden Industrieregion erschienen ihnen als Garanten des Überlebens. Je mehr Schornsteine rauchten, desto eher war ein Entkommen aus dem Kreislauf von ländlicher Überbevölkerung und Unterbeschäftigung aus der Strukturkrise des Handwerks möglich. Die Jahresförderung der Kohle stieg durch die Zuwanderung stark an.
Der Aufschwung machte die Kreise Saarbrücken und Ottweiler mit ihrer Kohle-, Eisen-, Stahl- und Glasproduktion zu industriellen Ballungszentren. Das Saarland war nun "Preußens Wilder Süd-Westen".
Obwohl es zur Rheinprovinz gehörte, teilte es deren Modernität weder in wirtschaftlicher noch in gesellschaftlicher Hinsicht.
Durch seinen Grubenbesitz an der Saar gewann der preußische Staat eine einzigartige Position. Er war der größte Unternehmer des Reviers und er vereinigte diese Macht mit den Hilfskräften seiner öffentlich-rechtlichen Stellung. Preußen beherrschte den Arbeitsmarkt an der Saar, seine Sozialpolitik war tonangebend und es besaß das regionale Kohlenmonopol. Aber auch die Hütten und übrigen Gewerbezweige waren von der Preispolitik Preußens abhängig.
Die Bevölkerung war größtenteils unmündig. Nur ein Teil der Saarbrücker Oberschicht hatte Einfluss auf die Bestimmungen.
Nun ging der neuzeitliche Modernisierungsprozess in seiner zentralen Etappe unter preußischer Herrschaft vor sich, das Saargebiet wurde eine preußische Industriekolonie, in seinen Entwicklungsmöglichkeiten abhängig von den Bedürfnissen hoheitlicher Wertabschöpfung.
Der preußische Staat dominierte das Revier und Uniformen prägten das äussere Bild. Militärische Denk- und Verhaltensmuster, Rituale und Symbole fanden zunehmend Eingang ins Alltagsleben. Befehl und Gehorsam, Zucht und Ordnung, Subordination und Pflichterfüllung bestimmte die Bürokratie und beeinflusste so das gesellschaftliche Leben. Das Projekt der Moderne trat an, aber in preußischer Variante.
Die industrielle Expansion im Saarbergbau benötigte technische Innovation und ein leistungsbereite Belegschaft. Da die Heranziehung fremder Fachkräfte an die Niedriglohnpolitik und dem Mangel an Wohnraum scheiterte, kamen nur die Bauern aus dem Umland des Kohlenwaldes in Betracht. Menschen, die mit der Maxime "Der Herr lässt wachsen" großgeworden waren und den agrarischen Lebensrhythmus verinnerlicht hatten, Menschen, deren Arbeitsmoral von vorkapitalistischen Prinzipien geprägt war: Nur so lange zu arbeiten, bis das nötigste verdient war. Für Preußen begann ein langfristiger Prozess der sogenannten "Zivilisierung" und "Besserung" der Unterschichten, der Disziplinierung und Verfleissigung des Volkes, um regelmäßiges und kontinuierliches Arbeitsverhalten zu erzwingen.
1819 wurde das Reglement für die Bergleute im Saarrevier erlassen, welches das angestrebte Menschenbild beschrieb: Der Bergmann sollte treu, gehorsam und folgsam sein und sich durch ein gutes betragen Zutrauen zu erwerben suchen. In seinem Leben sollte er Sittlichkeit, Ordnung und Rechtschaffenheit beweisen, zank und Streit und das schädliche Laster der Trunkenheit fliehen und meiden. Steiger und Knappschaftälteste wurden verpflichtet, auf den sittlichen Lebenswandel der Bergleute und ihrer Familien zu achten. An Zahltagen wurde der Wirtshausbesuch untersagt, Belegleute unter 24 Jahren hatten eine Heiratserlaubnis einzuholen und minderjährigen Arbeiter wurde ein Teil des Lohnes als Spargroschen einbehalten.
Die soziale Frage bestand demnach in einem Ansteigen der Bedürfnisse und die Lösung reduzierte sich auf Erziehung zur Sparsamkeit und zum Verzicht auf jede Form sinnlicher Genüsse.
Sogenannte "Industrieschulen" wurden unter der Begründung, die Bergmannstöchter zur Ordnung, Reinlichkeit und Sittlichkeit zu gewöhnen, und so zu erreichen, dass die nächste Generation unter den Bergleuten treuer, fleissiger und bessere Menschen würde. Väter, die sich weigerten, ihre Töchter in die Industrieschulen zu schicken, wurden abgelegt oder zum Verfahren von Feierschichten gezwungen.
Der preußische Staat stellte eine Herrschaftsintention dar, die sich als Pädagogik verkleidete.
Zur Bewirkung eines größeren Gemeingeistes in der Knappschaft sollte die Uniformierung der Individuen so schnell wie möglich vorgenommen werden. Viele differierende Details wie Knöpfe, Kragenspiegel und Federbüsche stellten sicher, dass die Uniform die spezifische Stellung des Trägers in der betrieblichen Hierarchie auswies. Der Säbel der Bergbeamten unterstrich deren Offiziersrang auf der bürgerlichen Stufenleiter. All dies stellte die Inszenierung einer aufgesetzten Kultur durch den preußischen Staat dar.
Die vollständige Konfessionsverschiebung als Folge der Binnenwanderung war von grundlegender Bedeutung.
Die Belegschaft der preußischen Saargruben standen die katholischen Bergleute im Verhältnis von 3:1 gegenüber. Doch die Spitze der Bergbauhierarchie hingegen wurde fast durchgängig von Protestanten gestellt. Erst in den mittleren und unteren Werksbeamtenrängen kamen Katholiken zum Zuge.
"In der evangelischen Bergmannsfamilie ist es der höchste Stolz, wenn ein Sohn es zum Beamten bringt, während auf der anderen Seite die katholische Familie den höchsten Wert darauf legt, wenn der Sohn es zum Geistlichen bringt." Typisierte der Vorsitzende der Bergwerksdirektion 1903.
Die katholischen Bergleute, die aus dem ehemals kurtrierischen und lothringischen Gebieten zuwanderten, kamen als Fremdkörper in eine protestantisch dominierte bürgerliche Welt, die sie keineswegs mit offenen Armen empfing.
Die katholische Kirche als sinnstiftende und gemeinschaftsbildende Instanz half bei der Eingewöhnung in die neue Welt. Die Neubergleute klammerten sich an ihren Glauben als Instrument der Lebensdeutung und Weltorientierung. Während der neue Alltag das Erlebnis der Ausgrenzung, der Heimatlosigkeit und des Unbehaustseins vermittelte, garantierte die Religion das Erlebnis emotionaler Geborgenheit und Entlastung.
Das Bürgertum des Reviers nahm sich zunächst recht bescheiden aus. Noch 1890, als die Imperien der Stumms und Röchlings längst existierten, beschäftigten die preußischen Saargruben zweieinhalbmal so viele Arbeiter wie die Eisenhütten in Neunkirchen, Burbach, Dillingen, Völklingen und Brebach zusammen.
Trotz einer nicht unerheblichen Beteiligung am Hambacher Fest und an der bürgerlichen Revolution, trotz einer Beschickung des Landtages mit liberal-oppositionellen Abgeordneten, verschoben sich allmählich die Gewichte. 1866 arrangierte sich die Mehrzahl des einheimischen Bürgertums mit der bestehenden Ordnung des preußischen Staates.
Bismarck ließ Gerüchte ausstreuen, dass der Verkauf der Saargruben an ein internationales Konsortium geplant sei und erzielte damit prompt den beabsichtigten Effekt. Die Saarbrücker Handelskammer, die bisher das Staatsoberhaupt heftig bekämpft hatte, erklärte es nun für durchaus erträglich, da sie ein Einströmen französischen Kapitals befürchtete. Nun trat der oppositionelle Wahlkreis Saarbrücken, dessen liberale Mehrheit die Möglichkeit privaten Bergbaus gefordert hatte, für das Staatsmonopol ein. Um die Wahl eines regierungsfreundlichen Abgeordneten durchzusetzen, ließ Bismarck die Verkaufsgerüchte möglichst lange im Raum stehen.
An der ökonomischen Präsenz Preußens deutelte fortan niemand mehr.
Die Zuwanderung weckte Angste, die in die gleiche Richtung wie die nationalliberale Allianz wirkten. Die katholische Bevölkerung erzeugte ein Gefühl der Bedrohung. Der Katholizismus wurde zur Unterschichtenreligion prädestiniert und andererseits das protestantische Bürgertum und die Beamtenschaft zunehmend "preußischer". Die Angst vor katholischer Überbevölkerung verstärkte ihr Selbstwertgefühl einer nationalen Leistungs- und Bildungselite und rückte sie noch näher an die preußische Oberschicht. Die kurzfristige Besetzung Saarbrückens gab den kollektiven nationalen Narzissmus gewaltigen Auftrieb.
Aus einem Ländchen, dessen Industrialisierung noch in den Kinderschuhen steckte, machte die preußische Bürokratie im Laufe von Hundert Jahren ein Montanrevier, das in Deutschland seinesgleichen suchte.
Die aller Modernisierung blieb die Region Industriekolonie:
Beschlüsse wurden ausserhalb getroffen. Jeder kostenrelevante Schritt staatlichen und bergbaulichen Handelns musste in Berlin detailliert begründet und zur Entscheidung vorgelegt werden. Im Saarrevier selbst amtierten nur Landräte als unterste Stufe der staatlichen Hierarchie, ein regionales Zentrum mit eigenen Kompetenzen und entsprechender Finanzausstattung fehlte.
Ahnlich verhielt es sich mit den Bildungsinstitutionen. Eine technisch-industrielle Schulform auf gehobenem Niveau wurde nicht ins Leben gerufen, ganz zu Schweigen von einer Universität. Die Saarbrücker Bergschule bildete Angestellte des mittleren Dienstes aus, keine wirtschaftlichen Führungskräfte. Die Elitenbildung geschah ausserhalb, griff nur in geringem Maße zurück auf die menschlichen Ressourcen des Gebietes.
Verarmte Kleinbauern bildeten das Menschenmaterial in der Produktionsschlacht, zuhause in einer schlechtgelüfteten Arme-Leute-Welt, die nie ganz satt machte, in der das Leben durch ständigen Mangel gekennzeichnet blieb. Sie bezahlten ihr Spärliches Auskommen mit einer Unterwerfung unter die Maximen der Verfleissigung, die den Verzicht auf eigene Gedanken, Initiativen und Ideen gebieterisch einforderten.
Die innere Spannung trat im Saargebiet überdeutlich zutage: Rasanter ökonomisch-technischer Fortschritt auf der einen Seite, auf der anderen starres Festhalten an feudalen Strukturen im gesellschaftlich-politischen Bereich. Eine Ungleichzeitigkeit, die sich zunehmend zur Zerreissprobe auswachsen sollte.
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