Die Reformen Peters des Großen
Bis heute sind im russischen Volk zwei grundverschiedene, aber gleich
einseitige Bilder Peters des Großen verbreitet. Den einen ist er der geniale
Reformer, der Rußland aus dumpfer Barbarei befreite und auf die Höhen
europäischer Kultur emporführte. Die anderen sehen in ihm den brutalen
Zerstörer des wahren Russentums, der das Land vom rechten Weg abbrachte und es
gewaltsam in die ihm wesensfremde »westliche« Richtung stieß.
Peters Reformen haben Rußland verändert. Sie waren jedoch nicht die
Verwirklichung eines durchdachten Gesamtplans, sondern erwuchsen stückweise aus
praktischen, zumeist militärischen Notwendigkeiten.
Schon seine Vorgänger hatten Expansionspolitik betrieben, die er verstärkt
fortsetzte, vor allem in Richtung auf die Ostseeküste mit ihren eisfreien
Häfen. Dazu brauchte man Streitkräfte mit moderner Bewaffnung und Ausrüstung.
Um diese nicht aus Westeuropa importieren zu müssen, war der Aufbau einer
eigenen Rüstungsindustrie und anderer Industriezweige erforderlich.
Zur Beschaffung der dazu notwendigen Geldmittel mußten neue Steuern und Abgaben
eingeführt werden, und dies wiederum erforderte die Schaffung entsprechender
Verwaltungsinstitutionen. Die neuen Behörden und die modernisierte Armee
brauchten Beamte und Offiziere, deren Fähigkeiten auf der Höhe der Zeit, d.h.
auf westeuropäischem Niveau waren. Deshalb wurde die Verbreitung westlicher
Wissenschaften, Methoden und Verhaltensweisen mit allen Mitteln gefördert. So
ergab sich jeder Reformschritt mehr oder weniger zwangsläufig aus dem
vorangehenden.
Der ganze Prozeß verlief jedoch sprunghaft und ungeordnet. Peter erteilte seine
Befehle oft spontan, ohne sich groß um die Ausführbarkeit zu kümmern. Zum
Beispiel ordnete er eine Mindestbreite für Leinwand an, bedachte aber nicht,
daß keine entsprechend großen Webstühle vorhanden waren. Die Termine, die er
für die Durchführung bestimmter Maßnahmen setzte, waren häufig unrealistisch
knapp. Weisungen wurden manchmal schon nach kurzer Zeit umgestoßen und durch
neue ersetzt. Die Behördenorganisation, die er schuf, war unübersichtlich und
litt unter unklarer Kompetenzverteilung, so daß es ständig zu Reibungen kam.
Für viele der eingeleiteten oder geplanten Reformen fehlten in Rußland einfach
die gesellschaftlichen Voraussetzungen. Um Industrien in dem gewünschten Umfang
aufzubauen, gab es weder geeignete Unternehmer noch Arbeiter. Peter suchte dem
Mangel durch Zwang abzuhelfen. Beispielsweise verpflichtete er Kaufleute,
staatliche Tuchfabriken zu pachten, mit der Auflage, daß sie binnen fünf Jahren
in der Lage sein müßten, den gesamten Uniformbedarf der Armee zu decken. Mit
solchen Mitteln war ein aktives Unternehmertum nicht zu schaffen.
Ahnlich stand es um die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung, die in den
Anfängen steckenblieb, weil es kein selbstbewußtes Bürgertum wie in Westeuropa
gab, das sich seine städtischen Freiheiten selbst erkämpft hatte. Betrachtet
man Peters »Revolution von oben« und ihr bestenfalls halbes Gelingen, so kann
man nicht umhin, an russische Reformer unseres eigenen Jahrhunderts zu denken.
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