Dank seiner Lagegunst im Delta des
Jangtsekiang und in der Mitte der chinesischen Küstenlinie wurde Shanghai schon
im 19. Jahrhundert zum wichtigsten Handels- und Finanzplatz, um die
Jahrhundertwende auch zum bedeutendsten Industrie- und Gewerbezentrum Chinas.
Zu einem erheblichen Teil waren daran Kolonialmächte aus Europa beteiligt, die
der Stadt teilweise ein europäisches Gepräge gaben. Die Stadt gewann den Ruf
einer pulsierenden, dynamischen, kosmopolitischen Metropole, in der Reichtum
und Armut dicht beieinanderlagen, die aber auch von Lastern und Kriminalität
geprägt wurde.
In kommunistischer Zeit wurde die Stadt lange vernachlässigt. Schwerindustrie wurde angesiedelt. Gewinne und Steuereinnahmen mußten weitgehend an die Zentralregierung abgeführt werden. Inzwischen jedoch hat die Modernisierung Shanghais eingesetzt, mit zukunftsträchtigen Industrien, hohen ausländischen Investitionen, aber auch mit dem Abriß des Baubestandes aus kolonialer Zeit, an dessen Stelle moderne Klötze aus Beton und Stahl treten. Ererbte Probleme sind die kritischen Wohnverhältnisse und eine extreme Belastung der Umwelt. Red.
Das alte Shanghai muß neuen Glas- und
Betonklötzen weichen
Shanghai ist dabei, seinen alten Ruf als pulsierende, dynamische und kosmopolitische Metropole wiederzugewinnen - einen Ruf, den es zu Beginn des Jahrhunderts und zwischen den beiden Weltkriegen vor allem bei Europäern und Nordamerikanern hatte. Seit weniger als einem Jahrzehnt wird Shanghai, 'Chinas Drachenkopf' in der fruchtbaren und dicht besiedelten Deltaebene des Changjiang (Jangtsekiang), radikal umgebaut und erweitert. In atemberaubendem Tempo entstehen Banken, Hotels, Kaufhäuser, Hochstraßen oder Bürokomplexe. Das alte Shanghai, bauliches Zeugnis einer kolonial geprägten Epoche, in der Taipane, Gangster, Opium, Armut und Glitzer die städtische Gesellschaft prägten, wird vermutlich weitgehend verschwinden.1 Nicht nur die ein- und zweigeschossigen Häuser in der Altstadt werden großenteils abgerissen, auch die Bauten der Neo-Renaissance und Neo-Gotik, die Tudor-Villen und Art-Deco-Wolkenkratzer, die das koloniale Shanghai zu einem Freilichtmuseum westlicher Baustile machten, werden zum Teil neuen Glas- und Betonklötzen weichen müssen, die genauso gut in Hongkong, Kuala Lumpur oder Singapur stehen könnten. Gleichwohl knüpft Shanghai an die Zeit vor 1949 an, denn wie die Bauten der zwanziger Jahre Ausdruck eines aggressiven Kapitalismus waren, sind die Betonriesen von heute Symbol für ein neues wirtschaftliches Selbstbewußtsein.
Nicht umsonst galt Shanghai nach 1949 der kommunistischen Partei als Zeugnis des ausländischen Kapitalismus und als Anomalie unter den chinesischen Städten. Koloniale Vergangenheit und Shanghais Rolle als Bastion radikaler Politiker während der Kulturrevolution haben sicher zu seiner Vernachlässigung durch die Zentralregierung beigetragen. Shanghai mußte für rd. 40 Jahre binnenorientierte chinesische Großstadt bleiben, Industriegüter für den heimischen Markt produzieren und seine Einnahmen fast vollständig an Beijing abliefern.2
Shanghais koloniale Vergangenheit
Tatsächlich wurde die Stadt im 19. Jahrhundert Geburtsstätte des modernen China und stieg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dem führenden Industriezentrum des Landes auf.3
Die 'Stadt über dem Meer' gewann schon früh Bedeutung als regionaler Handelsplatz in einem der fruchtbarsten und am dichtesten besiedelten Deltagebiete Chinas. Über den Changjiang war sie flußabwärts an ein ausgedehntes Binnenwassernetz angeschlossen, über das etwa 45 % der chinesischen Bevölkerung erreicht werden konnten. Außerdem hatte Shanghai den Vorteil, auf halber Strecke der Küstenlinie Chinas zu liegen und so natürliches Bindeglied im Küstenhandel zwischen Nord und Süd zu sein. Auch heute wieder zählen Lagegunst und ein Hinterland von rd. 180 Mio. Einwohnern zu den Pfunden, mit denen Shanghai wuchern kann.
Noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts lebten in der Altstadt von Shanghai vermutlich nicht mehr als 100 000 Menschen und in der weiteren Umgebung vielleicht nochmals 200 000 Einwohner.4 Das moderne Shanghai jedoch ist eine Schöpfung der Kolonialmächte5: 1842 wurde die Stadt ebenso wie Ningbo, Fuzhou oder Xiamen (Amoy) durch die sogenannten ungleichen Verträge gezwungen, ihren Hafen dem Außenhandel zu öffnen und Ausländern das Recht zur Niederlassung zu gewähren. Die Verträge galten zunächst für Großbritannien, in den Anschlußverträgen von 1844 sicherten sich aber die Vereinigten Staaten und Frankreich die gleichen Privilegien, zu denen Handelsvorteile, Niederlassungsrecht, Recht auf Exterritorialität und Konsulargerichtsbarkeit oder die Meistbegünstigungsklausel zählten.
Macht und Einfluß der Ausländer standen
in keinem Verhältnis zu ihrer Zahl
Seit 1843 errichteten Engländer Amerikaner und Franzosen nördlich der Shanghaier Altstadt, die seither Südstadt (nanshi) hieß, und später westlich davon eigene Niederlassungen. Um 1900 bestand die Stadt aus drei politischen bzw. Siedlungseinheiten:
- Unmittelbar westlich des Huangpu lag die bis 1911 ummauerte ovale Chinesenstadt mit ihrem vorkolonialen Gassengewirr und unglaublich beengten und teilweise unerträglichen Wohnverhältnissen.
- Von der Altstadt ausgehend erstreckte sich weit nach Westen die französische Konzession, vornehmlich ein Wohngebiet mit besseren Wohnbedingungen, noch heute ein - allerdings lebendiges - Freiluftmuseum englischer Landhäuser und französischer Neorenaissance-Villen.6
- Die internationale Konzession lag zu beiden Seiten des Suzhou Creek bzw. im Westen zwischen Suzhou Creek und Nanjing Road; hier fand sich auch das eigentliche Geschäftsviertel mit seinen Geschäfts- und Hotelbauten, die auch in jeder europäischen oder nordamerikanischen Großstadt hätten stehen können.7
Anders als die Kronkolonie Hongkong wurde Shanghai nicht von einer offiziellen britischen Verwaltungskaste regiert, sondern von einer Taipan Oligarchy ausländischer Geschäftsleute.8 Erst seit 1927 konnten sich auf Drängen der chinesischen Nationalisten auch chinesische Steuerzahler an den Wahlen beteiligen und seit 1928 eigene Mitglieder in den Gemeinderat entsenden.
Macht und Einfluß der Ausländer standen in keinem Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil. Zwar trafen in den Jahrzehnten nach der formellen Öffnung Shanghais für den Außenhandel Engländer, Franzosen, Amerikaner, Deutsche, Weißrussen, Japaner, Portugiesen, Spanier, Polen usw. ein; ausländische 'Shanghailänder' kamen schließlich aus mehr als 50 verschiedenen Nationen, doch blieb der Ausländeranteil im 19. Jahrhundert immer begrenzt.9 Der Zuwachs der einheimischen Bevölkerung wurde vornehmlich von den Wanderungswellen aus dem ländlichen Hinterland von Shanghai getragen. Solche Wellen erreichten Shanghai häufig im Gefolge von Aufständen und sozialen Unruhen, von Mißernten und Naturkatastrophen. Auch wenn die Einwohnerzahl periodisch auf über eine halbe Million anstieg wie etwa am Ende des Taiping-Aufstandes (1864), so wohnten um 1880 vermutlich nicht mehr als 200 000 chinesische Einwohner und ca. 2500 Ausländer dauerhaft in der Stadt.
Seit der Jahrhundertwende das
industrielle und gewerbliche Zentrum Chinas
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts florierte der Außenhandel, der seit der Jahrhundertmitte schon mehr als die Hälfte des gesamten chinesischen Außenhandels umfaßte.10 Vornehmlich agrarische und gewerbliche Erzeugnisse wie Tee und Seide wurden aus dem Hinterland gesammelt und exportiert, während bei den Importen anfänglich noch Opium dominierte. Doch seit 1900 fiel der Anteil der traditionellen Exportgüter und auch die Opiumimporte spielten kaum noch eine Rolle. Nach der Jahrhundertwende wandelte sich die Struktur der Shanghaier Wirtschaft tiefgreifend: der Transithandel ging zurück, während die Stadt zum industriellen und gewerblichen Zentrum Chinas aufstieg und zunehmend Fertigprodukte exportierte bzw. Investitionsgüter - insbesondere Maschinen - und Rohstoffe importierte.11 Führend war zunächst die Konsumgüter- und Textilindustrie: Baumwolle, Flachs, Hanf oder Seide wurden in Hunderten von Betrieben verarbeitet; Lebensmittelerzeugung, Tabakverarbeitung, Bekleidung, Leder- und Gummiverarbeitung, Papiererzeugung waren wichtige Produktionszweige, daneben Zündholzherstellung oder Produktion von Kosmetika und Medikamenten. Entscheidend für den industriellen Aufstieg der Stadt war der Zufluß von britischen, japanischen und später auch chinesischem Kapital. 1939 waren beispielsweise 60,5 % aller Baumwollspindeln in China allein in Shanghai konzentriert; sie befanden sich zudem zu zwei Dritteln in japanischen Händen.12
Zudem ein wichtiger Bankenplatz
Die massive Finanzkonzentration zog zahlreiche Banken nach Shanghai:1865 wurde z.B. die Hongkong and Shanghai Banking Corporation Limited gegründet, die fast ohne Unterbrechung bis heute eine Zweigstelle in Shanghai unterhält. In den dreißiger Jahren waren in Shanghai 36 große einheimische und 14 große ausländische Banken zu finden, daneben über 200 Geldstuben.13 In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Shanghai in der Tat zum führenden Wirtschafts- und Finanzzentrums Chinas aufgestiegen. Rund 40 % des gesamten industriellen Kapitals im Lande war in Shanghaier Unternehmen angelegt, rund 50 % der chinesischen Industrieproduktion waren hier konzentriert und rund 43 % aller Arbeiter in den modernen Fabriken des Landes hatten ihren Arbeitsplatz in Shanghai.14
Lebten um 1900 knapp 6800 Ausländer und rund 600 000 chinesische Einwohner in der Stadt, so stieg die Einwohnerzahl bis 1910 auf 832 500, darunter nur 15 000 Ausländer.15 Bis 1932 vervierfachte sich die Einwohnerzahl auf rund 3,13 Mio. Einwohner, darunter rund 70 000 Ausländer.16 Für die folgenden Jahre gibt es keine genauen Zahlen, allerdings schwoll während des chinesisch-japanischen Krieges und der japanischen Besatzungszeit die Zahl der chinesischen Bewohner gewaltig an, die in den Konzessionsgebieten Schutz suchten. Allein im International Settlement sollen sich in diesen Jahren zwischen 2 und 2,5 Mio. Menschen aufgehalten haben, d.h. mehr als doppelt so viele wie zu Beginn der 30er Jahre.17
Industrialisierung und die Zuwanderungswellen vom Land ließen auch ein.rasch wachsendes Proletariat entstehen. Insbesondere die Migranten aus Nord-Jiangsu (Subei) hausten in den engen Altstadtgassen oder in rasch errichteten Strohhütten um die neuen Fabrikanlagen entlang des Suzhou Creek oder südlich der Altstadt. Noch 1949 mußten fast eine Million Menschen in diesen Hütten leben - die Wohnfläche pro Kopf betrug vermutlich nicht mehr als rund 2 bis 3 m2.
Unglaubliche Armut und sagenhafter
Reichtum kontrastierten miteinander
Unglaubliche Armut kontrastierte schokkierend mit sagenhaftem Reichtum. Christliche Missionare fanden, wenn Gott dulde, was hier geschehe, dann müsse er Sodom und Gomorrha nachträglich entschuldigen. Nicht nur Abenteurer, Finanzbarone oder Opiumhändler ließen sich in Shanghai nieder, die Stadt galt auch als das größte Hurenhaus Asiens, denn die Prostitution beschäftigte mehr weibliche Arbeitskraft als jeder andere Gewerbezweig der Stadt.18 Zahlreiche Triaden, allen voran die Grüne Gilde, kontrollierten Spielhöllen, Prostitution und Opiumhandel; sie unterhielten gute Beziehungen zu höchsten Polizei- und Regierungskreisen. Die Stadt war wie der chinesische Autor Xia Yan schrieb: 'eine Stadt von 48stöckigen Wolkenkratzern, erbaut auf 24 Schichten der Hölle.'19
Der Bund (ein anglo-indisches Wort für Kai oder Uferstraße), ein oft mit Manhattan verglichener Boulevard am Huangpu, wurde zum Inbegriff von Reichtum und westlicher Lebensart. Zwischen dem ehemaligen Quai de France und der früheren Garden Bridge konzentrierten sich die Monumentalbauten der Kolonialgeschichte zwischen 1890 und 1940.20 David Sassoon, ein jüdischer Kaufmann aus Bagdad, der zu den Super-Reichen in Shanghai gehörte, baute das Sassoon-Haus mit dem ehemaligen Cathay Hotel (heute Peace Hotel),1930 wurde daneben das Gebäude der Bank of China im klotzigen Nationalstil errichtet. Weiter südlich standen das Custom House mit Glockenturm, einst Sitz der englischen Seezollverwaltung, oder die Hongkong und Shanghai Bank mit der großen Kuppel, heute Sitz der Stadtverwaltung. Shanghai galt als die technisch fortschrittlichste Großstadt Chinas, überprägt durch den Einfluß der westlichen Kultur.
Viele Industrielle flohen später nach
Hongkong oder Taiwan
Kein Wunder daß in Shanghai wie auch in anderen Küstenstädten der chinesische Nationalismus erwachte, gestützt auf neue gesellschaftliche Klassen, etwa auf die junge, oft im Westen ausgebildete nationale Bourgeoisie oder das moderne Industrieproletariat. Nicht verwunderlich, daß die 1921 auf dem Gebiet der französischen Konzession gegründete kommunistische Partei unter den rund 300 000 bis 400 000 Industriearbeitern eine erhebliche Anhängerschar fand.
1927 wurde Shanghai - genauer die chinesische Altstadt und alle Stadtteile außerhalb der Konzessionsgebiete - durch nationalistische Truppen besetzt und direkt der Nationalregierung in Nanjing unterstellt. Zudem wurde eine Verwaltungseinheit Groß-Shanghai gebildet, auch um die Kontrolle über die ausländischen Niederlassungen zu verstärken. Das neue Greater Shanghai sollte seinen baulichen Ausdruck durch eine Stadterweiterung im NO der Altstadt entlang des Huangpu finden; in Jingwan sollte ein neues städtisches Zentrum mit städtischen Behörden, öffentlichen Einrichtungen und repräsentativen Gebäuden entstehen - in gewisser Weise ein ferner Vorläufer des heutigen Pudong. Dieser neue Stadtteil, vermutlich auch eine Gegenwendung gegen die baulichen Zeugnisse kolonialer Macht, wurde aber nie errichtet.21
Wie Beejing oder Tanjin wurde Shanghai 1937 von den Japanern angegriffen und besetzt. Handel und Industrie wurden weitgehend lahmgelegt. 1945 zogen die Japaner ab, Amerikaner, Engländer und nationalistische Truppenverbände übernahmen die Stadt. Doch konnte sich die Guomintang-Regierung nicht lange halten, sie setzte sich 1948 nach Taiwan ab. Viele Shanghaier Industrielle flohen nach Taiwan oder Hongkong und legten dort den Grundstein für den späteren wirtschaftlichen Aufstieg der beiden kleinen Tiger.22 Am 25. Mai 1949 marschierten schließlich die Verbände der kommunistischen Volksbefreiungsarmee in Shanghai ein.
Großzügige Eingemeindungen sowie eine
Dezentralisierungs- und Entlastungspolitik
Noch 1949 war Shanghai die dominierende Stadt in China, in der sich etwa die Hälfte der gesamten industriellen Produktion konzentrierte. Während der ersten Industrialisierungsphase nach 1949, als schwerindustrielle Investitionen vorherrschten, erhielt die Stadt kaum staatliche Finanzmittel von der Zentrale in Peking zugeteilt, weil sie als Hort ausländischen Kapitals galt und vor allem weil sie aufgrund ihrer Küstenlage gegenüber ausländischen Angriffen zu verwundbar schien. Eigene Mittel konnten nur noch begrenzt verwendet werden. So betrugen beispielsweise 1970 die lokal verausgabten Anteile nur noch ein Drittel des in der Stadt erwirtschafteten Regionalprodukts. Zwischen 1970 und 1980 mußte die Stadtregierung beispielsweise jährlich zwischen 75 und 85 % ihrer Gewinne und Steuereinnahmen an die Zentralregierung in Beijing abführen.23 Mit diesem Finanztransfer erbrachte Shanghai fast ein Sechstel der jeweiligen zentralstaatlichen Einnahmen.24
Veränderungen und stadtplanerische Eingriffe gab es gleichwohl; um einen größeren Planungs- und einheitlichen Verwaltungsraum für den Ausbau der Infrastruktur und die vorgesehene weitere Industrialisierung zu schaffen, wurde das städtische Verwaltungsgebiet immer wieder erweitert.25 Zwischen 1949 und 1960 stieg die Verwaltungsfläche durch mehrfache Erweiterungen von rund 640 km2 auf schließlich rund 6200 km2. 1994 wurden 14 Stadtbezirke und 6 Landkreise von der regierungsunmittelbaren Stadt verwaltet. Mit diesen Eingemeindungen wurde zugleich die Voraussetzung für eine Dezentralisierungs- und Entlastungspolitik geschaffen, die Vorbild auch für andere Städte werden sollte. Am Ende des ersten Fünfjahresplanes beschloß die Kommunistische Partei die Gründung von Satellitenstädten, um das rasche Wachstum der Kernstadt zu bremsen, d. h. Industriebetriebe sollten ausgelagert, Neuanlagen an dezentralen Standorten errichtet und ein Teil der Bevölkerung aus der Kernstadt in die Satellitenstädte umgesiedelt werden.
Doch das Pmgramm der Satellitenstädte
war wenig erfolgreich
Insbesondere die nun entstehende Schwerindustrie wie Eisen- und Stahlerzeugung, Chemie und Mineralölverarbeitung wurde aus Gründen der Umweltbelastung in den neuen dezentralen Standorten errichtet.26 Die Satellitenstädte wurden in bis zu 70 km Entfernung von der Kernstadt gegründet, weil die unmittelbare Umgebung im wesentlichen dem Gemüseanbau vorbehalten war. Als erste Satellitenstadt wurde Minhang etwa 30 km südlich des Stadtzentrums entwickelt. Daneben wurden Wujing, Anting, Jiading, Songjiang, Jinshanwei und Wusong/Baoshan als weitere Satellitenstädte ausgewählt. Mit Ausnahme von Jiading, das von Anbeginn als Forschungs- und Wissenschaftszentrum vorgesehen war, sollten sich alle anderen Satellitenstädte auf bestimmte Industriezweige konzentrieren: in Anting dominiert beispielsweise der Automobilbau (u. a. Shanghai Volkswagen), in Minhang Maschinenbau, in Wujing die chemische Industrie, in Jinshanwei Leicht- und Textilindustrie und in Wusong/Baoshan Eisen- und Stahlerzeugung. Alle Satellitenstädte aber sollten Arbeiten und Wohnen verbinden sowie ausreichende Infrastruktur für ein selbständiges städtisches Leben anbieten.
Gleichwohl war das Programm der Satellitenstädte relativ wenig erfolgreich, weil es zumindest bis 1990 nicht gelang, die Innenstadt nennenswert zu entlasten: in allen Satellitenstädten zusammen wohnten mit rd. 680 000 Menschen nicht mehr als rund 9 % der Kernstadtbevölkerung. In vielen Fällen sind die Satellitenstädte nicht durch Zugezogene aus der Kernstadt, sondern durch Einwanderer aus der weiteren Umgebung von Shanghai gewachsen. Viele Menschen haben sich bislang geweigert, die Kernstadt zu verlassen, weil sie dort trotz der beengten Wohnverhältnisse mehr Lebensqualität und alle Einkaufsmöglichkeiten vorfinden. So pendeln etwa täglich 80 000 Menschen in die Industriebetriebe von Minhang. Selbst in dem 70 km südlich vom Stadtkern gelegenen petrochemischen Kombinat Jinshanwei leben trotz günstiger Wohnbedingungen nur 15 % der Arbeiter mit ihren Familien; die anderen pendeln meist wöchentlich in die Kernstadt.27 Die Schwächen der Satellitenstädte lagen in ihrer oft zu einseitigen Spezialisierung auf wenige Industriebranchen, in der Überbetonung sogenannter produktiver Investitionen und in einer zu geringen Ausstattung mit Infrastruktur - unzureichend sind vor allem die Transportsysteme - und öffentlichen Einrichtungen.28
Seit Mitte der 80er Jahre begann sich die wirtschaftliche Situation von Shanghai deutlich zu verbessern, weil die Stadt einige Jahre vorher wieder in den Kreis der begünstigten Regionen bzw. Verwaltungseinheiten aufgenommen worden war. Unter anderem hatten die aus Shanghai stammenden politischen Führer in Beijing auf lokalen Druck hin die ökonomische Revitalisierung der Stadt eingeleitet.29 Schließlich konnten im Jahr 1990 wieder über 90 % des Regionalprodukts lokal verbraucht werden. Seit 1988 durfte Shanghai auch den gleichen Anteil seiner Einnahmen behalten wie die schon lange bevorzugte Provinz Guangdong: der einbehaltene Anteil stieg von 60 % aller lokalen Gewinne und Steuern im Jahr 1986 auf rund 80 % zu Beginn der 90er Jahre. Allerdings war im Verlauf von mehr als drei Jahrzehnten ein bedenklicher Rückstand in der Infrastruktur, im Wohnungsbau und in der Modernisierung von veralteten Produktionsanlagen staatlicher Industrieunternehmen entstanden.
Die Einrichtung von Wirtschaftszonen
als Schritt zu Revitalisierung
Der nun einsetzende wirtschaftliche Aufschwung und die nachholende Erneuerung der Stadt waren wohl weniger auf die Aufnahme Shanghais in den Kreis der 14 offenen Küstenstädte, sondern eher auf die Ausweisung von Wirtschaftlichen und Technischen Entwicklungszonen im Stadtgebiet seit 1983 und schließlich auf die Etablierung der Wirtschaftszone Pudong zurückzuführen. Die Satellitenstadt Minhang erhielt eine eigene ETDZ (Minhang Economir and Techniral Development Zone), die ausländisches Kapital für moderne Industrieproduktion anziehen sollte. Bislang scheint diese Zone recht erfolgreich zu sein; in mehr als 70 Joint Ventures werden u.a. pharmazeutische, feinmechanische und elektronische Produkte hergestellt. Neben der Minhang ETDZ können die Hongquiao Economic and Technical Development Zone im Westen der Kernstadt nahe dem Flughafen und der Caohejing Hi-Terh Park im Südwesten der Kernstadt ebenfalls als erfolgreiche Pilot-Entwicklungszonen bezeichnet werden. Während der Caoheijing Hi-Tech-Park für Unternehmen im Bereich Halbleitertechnik, optische Fasernkabel, Mikroelektronik, Präzisionsinstrumente, Biomechanik usw. vorgesehen war, konzentrieren sich in der Hongquiao ETDZ Bürokomplexe, Hotels, Appartmenthochhäuser und Konsulatsgebäude. Auch das deutsche Generalkonsulat soll eines Tages hierher umziehen.
Vor allem die Pudong New Area - Pudong bedeutet 'östlich des Huangpu Flusses' -, die im Jahre 1990 ausgewiesen wurde und als neuer hochtechnologisch orientierter Stadtteil dem Vorbild von Singapur nacheifern sollte, erwies sich als der Wachstumsmotor für die 'Stadt über dem Meer'. Pudong, gegenüber der Kernstadt auf der Ostseite des Huangpu gelegen, unterscheidet sich von allen anderen Entwicklungszonen nicht nur durch seine riesige Flächenausdehnung (35 000 ha oder etwa ein Drittel der Fläche Hongkongs), sondern auch durch seine langfristige Entwicklungsperspektive. Pudong wird in einigen Jahrzehnten eine größere Fläche umfassen als die heutige Kernstadt (Puxi). Bislang schon sind große Verkehrsprojekte - Brücken- und Tunnelbauten - abgeschlossen worden, um die beiden Stadtteile miteinander zu verbinden. Investitionen in Pudong sind mit einer großen Zahl von Steuervorteilen und besonderen Nutzungsrechten verbunden, zudem hat Pudong den Status eines Stadtbezirks mit recht weitgehenden Entscheidungsbefugnissen erhalten.30
Die Entwicklungszone wurde in fünf relativ unabhängige Teilgebiete gegliedert: die alte City wird z.B. durch die auf der anderen Flußseite anschließende Lujiazui Financial and Trade Zone erweitert, schon heute markiert ein gewaltiger Fernsehturm von 'monumentaler Häßlichkeit' die neue Mitte. Diese Zone wird als Zentrum für Finanzen, Handel, Dienstleistungen, Informationsdienste und Beratungen dienen.
Bis Ende 1995 wurden bereits rund 3500 Unternehmen mit ausländischer Beteiligung sowie rund 30 Banken und Finanzinstitute in Pudong gezählt. In den letzten Jahren hat sich allerdings eine gewisse Ernüchterung bei den ausländischen Investoren breitgemacht, weil die Mieten und Preise für Büro- und Produktionsflächen explodiert und die Löhne und Gehälter sehr rasch gestiegen sind. Trotz einer nun verlangsamten Entwicklung wird die Errichtung der auch flächenmäßig größten chinesischen Wirtschaftszone als wichtiger Schritt für die Revitalisierung Shanghais gesehen.
Erneuerung aber auch in der
traditionellen Kernstadt
Die Erneuerung wird aber auch in der traditionellen Kernstadt vorangetrieben.1992/93 wurden Huahai Lu und der Bund um- und ausgebaut. Der Bau der U-Bahn schreitet zügig voran; 1995 wurde die 16 km lange nordsüdlich verlaufende Metro-Linie 1 nach sechsjähriger Bauzeit in Betrieb genommen, sie soll bis zu einer Million Passagiere täglich befördern können. Eine zweite ostwestlich verlaufende Linie wird in Angriff genommen, sie soll den Flughafen Hongqiao mit Pudong verbinden.
Der neue wirtschaftliche Boom in Shanghai schlägt sich nicht nur in gewaltigen Bauprojekten und einer rasanten Veränderung des Stadtbildes nieder er ist ebenso verknüpft mit einem durchgreifenden Wandel der städtischen Wirtschaftsstruktur.
Erbrachte der sekundäre Sektor zu Beginn der Wirtschaftsreformen noch rund 77 % des Bruttoregionalprodukts von Shanghai, während der tertiäre Sektor nur knapp 19 % beisteuerte, so sank der Anteil des Sekundärsektors bis 1995 auf knapp 58 % und der des Tertiärsektors verdoppelte sich auf rund 40 %.31 Allerdings hinken die entsprechenden Verschiebungen auf dem Shanghaier Arbeitsmarkt bis jetzt deutlich hinter denen der Wertschöpfung her. Noch bis 1990 stieg der Beschäftigtenanteil in der Industrie und im Baugewerbe auf 60 % aller Beschäftigten, erst seither ist eine leichte Abnahme auf 56 % bis zum Jahr 1994 zu beobachten, der Beschäftigtenanteil im Tertiärsektor stieg langsam, aber stetig von 21 % im Jahre 1978 auf 34 % im Jahre 1994. Verglichen mit der wirtschaftlichen Differenzierung anderer Weltstädte sind Handel, Banken und Dienstleistungen in Shanghai bislang noch schwach entwickelt. Die über Jahrzehnte einseitig auf die Industrie orientierte sozialistische Wirtschaftspolitik und die Vernachlässigung des tertiären Sektors, der als unproduktiv galt, sind also bis in die Gegenwart nicht ausgeglichen worden.32
Der Wandel in der Branchenstruktur
Die Branchenstruktur der Shanghaier Industrie ist im Verlauf der 50er und 60er Jahre vor allem zugunsten schwerindustrieller Zweige wie Petrochemie, Eisen- und Stahlindustrie usw. erweitert worden. Diese Wirtschaftspolitik ließ sich u.a. an dem wachsenden Anteil der Schwerindustrie an dem industriellen Produktionswert ablesen, der von 21 % im Jahre 1952 auf 51 % im Jahre 1978 anstieg. Bis in die Gegenwart spielen die Staatsbetriebe, die als die großen verlustbringenden 'Industrietanker' gelten, eine größere Rolle als im Landesdurchschnitt oder gar im Vergleich zur Provinz Guangdong. Noch 1995 waren unter den zehn größten Shanghaier Firmen vier Eisen- und Stahlwerke und zwei petrochemische Unternehmen zu finden.
Inzwischen steigt aber der Anteil von Industrieunternehmen in 'sonstigem Eigentum' beträchtlich an: 1992 vereinigten diese Unternehmen - vornehmlich chinesisch-ausländische Joint-Ventures und Unternehmen im Privateigentum - ein Viertel des Produktionswertes und ein Fünftel aller Industriebeschäftigten auf sich. Hinter dieser Veränderung steht vor allem der schon erwähnte Zufluß von ausländischem Kapital, das auch die Shanghaier Regierung als bedeutenden Motor der Modernisierung ansieht. Vor allem gefördert werden neue Schlüsselindustrien wie Automobilproduktion (Shanghai-Volkswagen!), Computer- und Mikroelektronik, Chemie- und Kunststofferzeugung, Haushalts- und Unterhaltungselektronik, Telekommunikation, Büromaschinen usw. Insgesamt also versucht die Shanghaier Regierung, den Aufbau von High-Tech- und kapitalintensiven Unternehmen zu forcieren.33
Bald wieder Finanz- und Handelsplatz?
Wenn auch die Industrie nach wie vor die wirtschaftliche Basis für Shanghai darstellt, so sieht die Stadt ihre Zukunft vor allem in den Bereichen Finanzen, Banken, Handel und Dienstleistungen. Die 1990 gegründete Wertpapierbörse, die allerdings mehrfach durch irreguläre Transaktionen auffiel, soll eine der Voraussetzungen für die zukünftige Position Shanghais als wichtigster Finanzplatz Chinas sein. Bei der Zulassung ausländischer Banken spielt Shanghai landesweit eine führende Rolle, bis 1995 hatten sich 38 ausländische Banken und Versicherungen, darunter die Dresdener Bank, die Commerzbank und die Bayerische Vereinsbank, niedergelassen, zudem hatten 119 ausländische Finanzinstitute Büros in Shanghai eröffnet.34
Aufgrund seines ausgedehnten Hinterlandes ist Shanghai seit je von Interesse für ausländische Kauf- und Warenhausketten. Einkaufszentren, Einzelhandelsketten aus Hongkong, Japan, Malaysia und Singapur sorgen längst für ein weltstädtisches Warenangebot, das in dieser Breite in kaum einer zweiten Stadt in China zu finden ist.
Der Zuzug in die Stadt mußte streng
gesteuert werden
Der Boom in Shanghai übt auf Millionen von Chinesen eine magische Anziehungskraft aus. Um den Zustrom von Menschen einigermaßen unter Kontrolle zu halten, wird der Zuzug durch ein streng gehandhabtes Melde- und Registrierungssystem für die Dauerbevölkerung bis in jüngste Zeit kanalisiert. Angesichts der Tatsache, daß Shanghai die größte und wirtschaftlich dominierende Stadt des bevölkerungsreichsten Landes der Erde war, blieb die Einwohnerzahl nach einem relativ raschen Anstieg in den 50er Jahren bemerkenswert konstant.
Innerhalb der heutigen Stadtgrenzen lebten 1952 8,5 Mio. Einwohner, am Ende des ersten Fünfjahresplanes waren es 10,1 Mio. (1957) und zu Beginn der Wirtschaftsreformen im Jahre 1979 11,3 Mio. Der rasche Bevölkerungszuwachs während des ersten Fünfjahresplans hatte die mangelhafte Infrastruktur, den knappen Wohnraum und die Versorgungsprobleme so drängend deutlich gemacht, daß um 1957/58 eine durchgreifende Kontrolle der Zuwanderung einsetzte. Wer dauerhaft in Shanghai leben wollte, brauchte eine entsprechende Wohnberechtigung (hukou). Nur wer registriert wurde, konnte auch eine Zuteilung von Wohnraum erwarten, hatte Anspruch auf einen Arbeitsplatz oder die tägliche Reisration.
Gegenwärtig liegt Shanghai nach den Angaben der UN unter den größten städtischen Agglomerationen der Erde nach Tokyo, New York, Mexiko City und Sao Paulo auf Platz 5. Das Statistische Jahrbuch von Shanghai nennt für 1995 allerdings nur 13,0 Mio. Menschen, die innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Stadt - unter Einschluß der Landkreise - leben.35 Auch die Bevölkerungszahl der städtischen Bezirke - und damit die eigentliche Stadtbevölkerung von Shanghai -stieg nur langsam von 6,3 Mio. im Jahr 1957 auf 7,9 Mio. im Jahr 1992. Der jüngste Sprung auf 9,53 Mio. Menschen im Jahr 1995 war überwiegend auf administrative Veränderungen zurückzuführen; d.h. drei Kreise mit insgesamt rund 1,5 Mio. Einwohnern wurden vor einigen Jahren zu städtischen Bezirken erhoben.36
Das offizielle Bevölkerungswachstum von Shanghai wird gegenwärtig ausschließlich durch Zuwanderung gesteuert, denn der natürliche Zuwachs der registrierten Dauereinwohner wird seit einigen Jahren durch ein Geburtendefizit geprägt, das bislang auch unter allen chinesischen Stadtregionen einmalig sein dürfte. Lag das natürliche Wachstum der registrierten Dauereinwohner 1957 noch bei fast 40 Promille, so sank diese Rate rasch unter 10 Promille und schließlich auf einen negativen Wert von -1,4 Promille.
Rund ein Fünftel der Bevölkerung sind
'floating population'
Ist die Zuwanderung dauerhaft registrierter Einwohner nach wie vor relativ begrenzt, so machen der Stadt zunehmend die sogenannten temporären Zuwanderer Sorgen, die unter dem Stichwort der floating population zusammengefaßt werden. Im Gegensatz zur restriktiv gehandhabten Erteilung einer dauerhaften Wohnerlaubnis ist eine Genehmigung für einen zeitlich begrenzten Aufenthalt in Shanghai recht leicht zu bekommen. Nur so kann der Zuwanderungsdruck einigermaßen aufgefangen werden, denn die größte Metropole Chinas absorbiert wie keine andere Agglomeration des Landes floating people aus einem weiten Hinterland. Nach einer Stichprobenerhebung zu Jahresende 1993 lebten 2,5 Mio. temporäre Einwohner in der Stadt, doppelt so viele wie 1988. Die floating people machen also fast ein Fünftel der Dauerbewohner aus; man darf zudem vermuten, daß eine Dunkelziffer von erheblicher Größenordnung vorhande37 Rund 80 % dieser Migranten sind ehemalige Bauern vom Lande zu drei Vierteln aus den benachbarten Provinzen Jiangsu, Zhejiang und Anhui -, die auf der Suche nach Arbeit in die Großstadt ziehen. Viele von ihnen schuften und hausen auf den ungezählten Baustellen in Shanghai. Die 'Menschen von draußen' (waidiren) arbeiten oft bis zu 16 Stunden am Tag, nicht nur um zu überleben, sondern auch um Geld für die Familienangehörigen zu Hause zu sparen.
Die Bedeutung dieser Zuwanderer mit begrenzter Aufenthaltserlaubnis für die städtische Wirtschaft und das städtische Leben wird recht unterschiedlich beurteilt. Einerseits sind sie fast unentbehrlich als Bauarbeiter in der Straßenreinigung, als Arbeiterinnen in den Textilfabriken, Kleinhändler oder Reparaturhandwerker, andererseits wird ihr Druck auf die städtische Infrastruktur, auf den Wohnungsmarkt und auch ihr Anteil an kriminellen Delikten mit Sorge registriert.
Die Versorgung mit Wohnraum ist nach
wie vor prekär
Die langjährige Vernachlässigung der Infrastruktur und des Wohnungsbaus, aber auch die rasante Entwicklung der letzten Jahre haben zahlreiche Engpässe für die weitere Stadtentwicklung offenkundig werden lassen.
Die Versorgung mit Wohnraum ist nach wie vor prekär, wenn sich auch nach offiziellen Angaben die Netto-Wohnfläche pro Kopf zwischen 1957 (3,1 m2) und 1993 (7,3 m2) mehr als verdoppelt hat.38 Nach der Machtübernahme war die kommunistische Stadtregierung keineswegs untätig, bereits seit 1950 wurden die Wohn- und Lebensverhältnisse in rund 300 Quartieren mit unzureichendem Standard verbessert und zahlreiche neue Wohnquartiere errichtet. Dennoch kam der Wohnungsbau dem wachsenden Bedarf aus Kapitalmangel über Jahrzehnte nur ungenügend nach. Shanghai galt in China traditionell als eine der Städte mit der größten Wohnungsnot, wenn auch die Situation in Städten wie Shenyang, Harbin oder Anshan keineswegs besser war. Erst mit Beginn der Wirtschaftsreformen belebte sich der Wohnungsbau deutlich: zwischen 1980 und 1993 wurde die gesamte Wohnfläche in Shanghai mehr als verdoppelt. Die Verbesserung des Wohnungsangebots war verknüpft mit einer begrenzten Wohnungsreform, die u.a. durch Förderung des Wohnungseigentums und den Aufbau von öffentlichen Akkumulationsfonds die Investitionsmittel zu erhöhen suchte.39
Der Anteil von Haushalten in akuter Wohnungsnot, d. h. mit weniger als 4 m2 Wohnfläche pro Kopf, sank bis 1993 auf rund 9 % aller Haushalte. In Shanghai sind es gerade die älteren Wohnviertel am Suzhou Creek und südlich der Altstadt, die zudem stark von Industriebetrieben durchsetzt sind, in denen immer noch besonders drangvolle Wohnverhältnisse herrschen.
Da der Baugrund inmitten dieser Wohnviertel
aufgrund seines Lagevorteils sehr teuer ist, hat die Stadtregierung in vielen
Fällen den Grund und Boden an ausländische Investoren verkauft, die Geschäfts-,
Hotel- und Bürokomplexe hochzogen. Die Folge dieser Praxis in Verbindung mit
großen Verkehrsprojekten waren in den letzten Jahren oftmals Flächensanierungen
in der Altstadt, in deren Gefolge bislang knapp 300 000 Einwohner zwangsweise
umgesiedelt wurden. Die Verbesserung der Wohnverhältnisse ist deshalb vielfach
verknüpft mit gravierenden sozialen Problemen. Viele Altstadtbewohner wurden
gegen ihren Willen in stadtrandliche Neubauquartiere mit schlechter
Verkehrsanbindung und unzureichenden Einkaufsmöglichkeiten verfrachtet. Wie
bereits erwähnt, bevorzugen viele Menschen die Altstadt trotz ihrer Enge, weil
sie ein dichtes soziales Netz und die nahen Versorgungsmöglichkeiten nicht
missen wollen. Der Spruch
'Besser ein Bett in Puxi (der Altstadt westlich des Flusses) als ein Haus
in Pudong' kennzeichnet diese Haltung treffend.40
Alle genannten Wohnungsdaten beziehen sich nur auf die Dauerbewohner von Shanghai, die Wohnsituation der rund 2,5 Mio. temporären Einwohner ist deutlich schlechter als die der Bevölkerung mit unbeschränkter Wohnberechtigung.41 Die Arbeitsmigranten leben vielfach auf den Baustellen, in einfachen Fabrik-Wohnheimen oder sie mieten einen Raum bei Bauern am Stadtrand. Die Mehrzahl der temporären Einwohner lebt im Stadtrandbereich, weil dort auch eher Platz für selbsterrichtete Hütten vorhanden ist und die polizeilichen Kontrollen weniger scharf sind. Slumähnliche Behausungen, Squattersiedlungen oder Substandard-Quartiere - ein Charakteristikum anderer Megastädte der Dritten Welt - sind seit einigen Jahren auch in Shanghai zu entdecken.
Die Belastungen von Boden, Wasser und
Luft
Eine weitere Folge der hohen Verdichtung, der ungenügenden städtischen Müllentsorgung, unzureichender Kanalisation, fehlender Kläranlagen, veralteter Produktionsbetriebe oder von Heizanlagen, die immer noch Kohle nutzen, sind Belastungen von Boden, Wasser und Luft.42 Zwar ist die Situation in Shanghai symptomatisch für alle chinesischen Großstädte, doch mit Blick auf Wasser- und Luftverschmutzung sowie Lärmbelastung hatte Shanghai um 1990 unter 37 Städten, für die Indikatoren vorlagen, die schlechteste Position.
In Shanghai gibt es Zehntausende von Industriebetrieben, die über die ganze Stadt verstreut sind. Viele von ihnen sind total veraltet, energieintensiv und/oder ohne technische Ausrüstung zur Verminderung der Emissionen. Die Industrie ist in Shanghai Umweltsünder Nummer eins, verantwortlich für 90% aller gasförmigen Emissionen und 60 % aller unbehandelten Abwässer. Jedes Jahr werden über 20 Mio.t - häufig minderwertiger - Kohle verbrannt und täglich 800 t Kohlenstaub emittiert. Messungen ergaben jährlich rund 1600 t Asche - und 1500 t Schwefeldioxid-Immissionen pro km2; die Belastungsdichte an SO2 je Flächeneinheit ist am höchsten in ganz China. Auch die NOx-Werte liegen bis zu 80 % über den offiziellen Richtlinien. Industrieabwässer werden kaum gereinigt, von den Haushaltsabwässern sollen 1992 nur 14 % durch Kläranlagen behandelt worden sein. Es ist zwar geplant, das Abwasser durch große Kanäle direkt ins Meer zu leiten, gegenwärtig sind aber Huangpu und insbesondere der Suzhou Creek extrem verschmutzt. Letzterer stank beispielsweise an 195 Tagen im Jahr 1990 so stark, daß die Gerüche eine ernsthafte Belastung für die Anwohner darstellten.
Chemische Abwässer der Industriebetriebe und die Fäkalien der Haushalte fließen also fast ohne Kontrolle oder Behandlung in das Flußnetz. Damit gelangen die Abwässer auch in die landwirtschaftlichen Bewässerungssysteme, chemikalienverseuchte Wässer berieseln die Felder Auch die Weiterverwendung des städtischen Abfalls und des nightsoils führte zur Anreicherung von Schwermetallen im Boden (insbesondere Cadmium und Chrom). Im Umland sind auch über 3000 kleinere und größere Deponien verstreut, die nicht ausreichend abgedichtet sind und somit die Ackerflächen und das Grundwasser verschmutzen. In Shanghai müßten erhebliche Teile der kontaminierten Gemüseanbauflächen sofort aus dem Anbau herausgenommen werden.
Das Problem der Umweltverschmutzung in Shanghai ist selbstverständlich Planern und Politikern wohlbekannt, es gibt auch zahlreiche Ansätze für ein effizientes Umweltmanagement. Zwar sind in den letzten Jahren leichte Verbesserungen erzielt worden, insgesamt aber sind die Aussichten für eine nachhaltige Besserung der Umweltqualität begrenzt. Einerseits sind die ererbten Strukturmängel so gravierend, daß sie nur langfristig gelöst werden könnten, andererseits schafft das rasante Wirtschaftswachstum der 90er Jahre neue Umweltbelastungen, denn der Bedarf an Energie, Eisen und Stahl oder Beton ist fast unersättlich.
Auf dem Weg zum wirtschaftlichen
'Drachenkopf' der Volksrepublik China
Die wirtschaftliche Zukunft von Shanghai wird allerdings weniger unter Umweltaspekten diskutiert, sondern vor allem mit Blick auf das strategische Potential der Metropole. Geographen und Ökonomen in China und Hongkong beschäftigen sich u.a. mit der Frage, ob Shanghai eines Tages Hongkongs Bedeutung für China übernehmen könnte.43 Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß die zukünftige Rolle von Shanghai im Konzert der chinesischen Metropolen weniger mit Blick auf Beijing diskutiert wird, sondern vor allem auf das Perlflußdelta mit seinen beiden Millionenstädten Guangzhou (Canton) und Hongkong. Während beispielsweise die einen der Meinung sind, Shanghai habe angesichts des gesamtwirtschaftlichen Wachstums in China und der rasanten Entwicklung von Pudong alle Chancen, Hongkong in einer nicht zu fernen Zukunft zu überholen, beurteilen andere die Entwicklungschancen von Shanghai differenzierter.44 Shanghai habe trotz seiner hervorragenden geographischen Lage, trotz der für die Stadt so günstigen staatlichen Entwicklungspolitik noch viele Hemmnisse zu beseitigen. Dazu zählen u.a. die unzureichende Hafeninfrastruktur, die unbewegliche und zu teueren Fehlentscheidungen neigende Staatsbürokratie (bureaucratic state capitalism), der hohe Anteil veralteter und unrentabler Staatsbetriebe oder ein nach wie vor zu schwaches Banken- und Finanzsystem, um nur einige hemmende Faktoren aufzuführen. Im günstigen Falle, so Sung, wird es eine funktionale Arbeitsteilung zwischen den vier Metropolen geben: während Beijing das politische und kulturelle Zentrum des Landes bleibt, wird Shanghai vermutlich das nationale Finanzzentrum und der Schwerpunkt der Schwerindustrie werden bzw. bleiben. Hongkong wird seine Position als nationales und internationales Finanzzentrum, als wichtigster Hafen und als Kommunikationszentrum halten, die Provinz Guangdong mit der Provinzhauptstadt Guangzhou (Canton) an der Spitze wird vermutlich im Bereich der exportorientierten Konsumgütererzeung führend bleiben.45 Wie immer man diese Szenarien beurteilen mag, es steht außer Frage, daß die Entwicklungsaussichten für Shanghai in den letzten fünf Jahrzehnten nie so günstig waren wie Ende der 90er Jahre.
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