Vom einfachen zum variablen Modell des demographischen Übergangs
I. Einleitung
II. Das Modell des demographischen Übergangs
III. Das variable Modell des demographischen Übergangs
IV. Anwendung des Modell
V. Kritik an dem Modell
VI. Zusammenfassung
I. Einleitung
Die Zunahme der Bevölkerung, die aus dem Zusammenspiel von Geburten- und Sterberate resultiert, blieb jahrtausendelang außerordentlich gering. Nach Schätzungen leben heute (1991) etwa 5, 4 Milliarden Menschen auf der Erde; 100 Jahre zuvor waren es lediglich 1,5 Mrd.. Das bedeutet, daß der Zuwachs in nur einem Jahrhundert den aller vorangegangenen Zeitabschnitte um mehr als das Doppelte übertroffen hat.
Die Entwicklung der Weltbevölkerung läßt sich stark vereinfacht in zwei Abschnitte untergliedern: in eine sehr lange Periode nur langsamen und eine sehr kurze Periode stark beschleunigtem Wachstum. Um die Gründe für den vor etwa 200 Jahren in Europa einsetzenden Umschwung zu verstehen, ist es notwendig, das zusammenwirken von Mortalität und Fertilität in raumzeitlicher Differenzierung genauer zu analysieren ( Bähr S.240-248 gekürzt).
II. Das Modell des demographischen Übergangs
Das Modell des demographischen Übergangs baut auf der in Europa, Nordamerika und Australien beobachteten Entwicklungen auf. Hier haben sich Sterblichkeit und Fruchtbarkeit während der letzten beiden Jahrhunderte in sehr regelhafter Weise verändert, und man glaubte daraus schließen zu können, daß jede Bevölkerung dazu bestimmt sei, einen demographischen Transformations-prozeß nach diesem Muster zu durchlaufen (Hauser 1974, S. 130 aus Bähr S. 248).
Dieser Wandel wurde zuerst von Noteststein (1945 und 1950) als 'demographischer Übergang' bezeichnet. Er konnte sich dabei auf Vorarbeit anderer Forscher ( vor allem Thompson 1929) stützen und sein Konzept ist später weiterentwickelt worden (vgl. Mackensen 1972; Marschalk 1979; Grigg 1982; Schmid 1984a aus Bähr, J.; Jentsch, C.; Kuls, W. S. 481)
Beim Idealtypischen Verlauf wie er in Abb.1 + 2 dargestellt ist, unterscheidet man gewöhnlich 5 Phasen, die wie folgt zu charakterisieren sind:
Phase 1: Prätransformative Phase (Vorbereitungsphase) mit hohen, nahe beieinanderliegenden
Geburten- und Sterberaten, hohe Umsatzziffer und einer geringen Wachstumsrate,
Phase 2: Frühtransformative Phase (Einleitungsphase) mit deutlich fallenden Sterberaten bei
weitgehend gleichbleibenden oder gar leicht zunehmenden Geburtenraten und steigenden
Zuwachsraten,
Phase 3: Mitteltransformative Phase (Umschwungphase) mit weiterem Sterblichkeitsrückgang
und einsetzendem Geburtenrückgang. In dieser Phase wird im allgemeinen die maximale
Zuwachsrate überschritten,
Phase 4: Spättransfomative Phase (Einlenkungsphase) mit weiterem raschen Abfall der Geburten
und noch leicht zurückgehenden Sterberaten; die in Phase 2 sich öffnende 'Bevölkerungs-
schere' schließt sich wieder, die Zuwachsraten gehen stark zurück,
Phase 5: Postformative Phase ( Phase des Ausklingens) mit niedriger Geburten- und Sterberate,
wobei sich die Geburtenraten eher verändern als die Sterberaten. Bei letzteren ist
aufgrund des veränderten Altersaufbau der Bevölkerung ein leichter Anstieg zu
verzeichnen.
Die Abgrenzung der Phasen kann nicht schematisch durch festgelegte Schwellenwerte erfolgen, sie wird sich vielmehr den jeweiligen Untersuchungseinheiten und dem dabei anzutreffenden Niveau von Geburten- und Sterberaten zu richten haben ( aus Bähr, J.; Jensch, C.; Kuls, W. S.481+482).
Die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung ist nun auch in den Industrieländern nicht einheitlich nach diesem Schema abgelaufen.
Vorallem der Zeitfaktor ist stark unterschiedlich (Abb.4). Im allgemeinen dauerte der Übergang von einem Zustand hoher Mortalität und Fertilität zu allgemein niedrigen Sterblichkeits- und Fruchtbarkeitswerten um so länger, je früher der Umschwung einsetzte. Diese Unterschiede ergeben sich auch innerhalb einzelner Länder (vgl. z. B. Vichnevskij 1988 für die Sowjetunion).
Eine vollends andere Entwicklung läßt sich für Frankreich feststellen. Hier verliefen Mortalitäts- und Fertilitätsrückgang weitgehend parallel zueinander, so daß es zu keinem Zeitpunkt zu einer mit anderen Ländern vergleichbaren Öffnung der Bevölkerungsschere gekommen ist (Bähr S.252).
III. Das variable Modell des demographischen Übergangs
Um derartige 'Abweichungen' angemessen zu berücksichtigen wurde von Woods (1982) das
'variable Übergangsmodell' entwickelt.
Dabei wird der Verlauf in Frankreich, dem Sonderfall unter den europäischen Ländern, ungefähr
durch die Kurven g' und s' wiedergegeben, währen Deutschland eher dem 'Normalfall' (Kurven g''
und s'' ) entspricht. Auch eine Erweiterung auf Länder der Dritten Welt ist mit einem solchen
Modell möglich. So läßt sich durch die Kombination der Kurven s''' und g''' ein schneller Abfall der
Mortalität bei stark verzögertem Fertilitätsrückgang kennzeichnen.
IV. Anwendungen des Modell
1. Die Beschreibungsfunktion des Modells:
Das Modell dient zur idealtypischen Beschreibung der in den westlichen Industrieländern im
zeitlichen Verlauf festgestellten Veränderungen von Mortalität und Fertilität ( Bähr S.250).
2. Die Klassifikationsfunktion des Modells:
Zur Klassifikation von Ländern nach dem Stand der 'Modernisierung' hat sich das Grund-
modell als gut verwendbar erwiesen, sofern damit nicht Stadien einer gesetzmäßigen Abfolge
gekennzeichnet werden sollen ( aus Bähr, J.; Jensch, C.; Kuls, W. S.489).
3. Die Theoriefunktion des Modells:
Das Modell wird herangezogen, um im Zusammenhang mit der sozio-ökonomischen
Entwicklung nach den Ursachen des Transformationsprozesse zu fragen.
4. Die Prognosefunktion des Modells:
Das Modell bildet die Grundlage für Prognosen der künftigen Bevölkerungsentwicklung auf der
Erde oder in einzelnen Großräumen und Ländern ( Bähr S.251).
V. Kritik an dem Modell
Als Instrument für Beschreibung und Klassifikation hat sich das Modell des demographischen Übergangs vielfach bewährt, und es wird gewiß auch weiterhin dafür Verwendung finden.
Die Hauptkritikpunkte richten sich somit gegen die Theorie- und Prognosefunktion des Modells, wobei sich folgende Aspekte ergeben:
1. Die Theorie ist nicht allgemeingültig, sondern kulturspezifisch und historisch relativ.
2. Die den demographischen Übergang bestimmenden Faktoren und ihre Wechselbeziehungen sind
nicht eindeutig geklärt. So trifft die enge Beziehung zwischen Fruchtbarkeit, Urbanisierung und
Industrialisierung selbst in Europa nur begrenzt zu.
Noch weniger gilt dies für viele Staaten der dritten Welt; vielmehr gibt es eine Reihe von
Anzeichnen, daß hier der Modernisierungsprozeß als treibende Kraft der demographischen
Transformation durch endogen und exogene Faktoren gestört wird (u.a. Übernutzung der
natürlichen Ressourcen), was nicht ohne Einfluß auf die Fruchtbarkeitsentwicklung bleiben
dürfte (Hauser 1989b).
3. Das gleiche gilt für den prognostischen Wert des Modells. Zwar scheint es plausibel, daß auch
in jenen Teilen der Erde, wo heute Geburten- und Sterberate weit auseinanderklaffen, ein neuer
Gleichgewichtszustand mit geringem Bevölkerungswachstum zustande kommt, wann und in
welchem Zeitraum dies jedoch geschieht, läßt sich aus dem Modell nicht ableiten.
So ist es außerdem nicht auszuschließen, daß die Fertilität langfristig unter das Sterblichkeits-
niveau sinkt und somit eine Phase der degressiven Bevölkerungsentwicklung einsetzt (vgl.
Europa) ( aus Bähr, J.; Jensch, C.; Kuls, W. S.492 gekürzt).
VI. Zusammenfassung
Das Modell des demographischen Übergangs ist, besonders was die Ausweitung des Modells auf die Entwicklungsländer betrifft, umstritten. Auch besteht das Problem, daß innerhalb einzelner Staaten häufig Differenzierungen bei demographischen Strukturen und Prozessen anzutreffen sind, die mit der ethnischen Gliederung der Bevölkerung und unterschiedlichen Lebens- und Wirtschaft-
formen im Zusammenhang stehen ( aus Bähr, J.; Jensch, C.; Kuls, W. S.488).
Alle Autoren betonen jedoch, daß bei der Übergangstheorie von einer 'fruchtbaren Kritik' (Schmid 1976, S.294) gesprochen werden kann, da die über mehrere Jahrzehnte andauernde Dis-kussion zu einer intensiven Beschäftigung mit Fragen vergangener und zukünftiger Bevölkerungs-entwicklung geführt hat und zum bessern Verständnis von Bevölkerungsvorgängen beigetragen hat.
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