Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
1 Das Elternhaus
Kafkas Vater Herrmann wurde 1852 in Wossek in Südböhmen, einem winzigen Dorf von knapp hundert
Einwohnern, geboren. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen. Sein Vater, Jakob Kafka, war Fleischhauer und
heiratete 1849, als Fünfunddreißigjähriger, seine Nachbarin Franziska Platowski. Jakob Kafka hatte sechs
Kinder, zwei Töchter und vier Söhne, die schon in jungen Jahren und frühmorgens, auch im Winter und oft
barfuß, die Fleischwaren mit einem Handkarren in die umliegenden Dörfer bringen mußten. Die
Lebensverhältnisse der Familie waren äußerst bescheiden, die Schulbildung scheint jedoch, den Verhältnissen
entsprechend, überdurchschnittlich gewesen zu sein. In Wosek existierte damals noch eine jüdische Schule, und
hier hat wohl Kafkas Vater (dessen Umgangssprache damals tschechisch war) deutsch lesen und schreiben
gelernt. Als Vierzehnjähriger verließ Herrmann Kafka Wossek und versuchte als Wanderhändler sein Glück.
Nach dem Militärdienst siedelte er nach Prag über und gründete dort ein paar Jahre später,
mit einigen Mitteln seiner Braut, der vermögenderen Brauerstochter Julie Löwy, ein Galanteriewarengeschäft.
Julie Löwy wurde in Bad Podêbrad geboren. Ihr Großvater war ein sehr jüdisch gebildeter Mann. Sie hatten ein
ziemlich großes Geschäft, welches sehr vernachlässigt wurde, da der Großvater sich lieber mit dem Talmud
beschäftigte. Julie Löwys Mutter war die einzige Tochter des frommen Talmudisten. Sie starb mit 28 Jahren an
Tifus-Epedemie und hinterließ die drei Jahre alte Julie und ihre drei Brüder. Ihr Vater hatte nach einem Jahr
wieder geheiratet, aus dieser Ehe stammen zwei Söhne, verkaufte das Haus und auch das Geschäft ihrer Eltern
und übersiedelte nach Prag. So wuchs Julie seit ihrem vierten Lebensjahr nur unter der Obhut der Stiefmutter und
des Vaters auf.
Empfindlichkeit, Gerechtigkeitsgefühl, Unruhe so charakterisierte Kafka das Löwysche Erbteil. Einige dieser
Eigenschaften waren auch in Kafka stark ausgeprägt, besonders die schüchterne, beinahe übermäßig ängstliche
Bescheidenheit, die Scheu und eine gewisse Kontaktarmut. Der Kafkasche Lebens-, Geschäfts- und
Eroberungswillen war hingegen nicht auf Kafka übergegangen.
Hermann Kafka vergaß seine schwere Jugend nie, hielt sie beständig seinen Kindern vor Augen und akzeptierte
lediglich die gesellschaftliche Anerkennung als erstrebenswertes Ziel. Die gesellschaftliche Anerkennung war in
der altösterreichischen Provinzhauptstadt nur auf dem Umweg über die schmale deutsche Oberschicht zu
erlangen. Der deutlichste Hinweis für die entschlossenen Anschlußversuche an die deutsche Gesellschaft ist die
Schulbildung der Kinder - sämtliche Kinder der Familie Kafkas besuchte ausschließlich deutsche Schulen.
1.2 Die Kindheit
Am 3. Juli 1883 wurde Franz Kafka in einem Haus in der Altstadt Prags geboren. Während seines ganzen Lebens
- mit Ausnahme der letzten Lebenszeit, als ihn die Krankheit zwang, Sanatorien aufzusuchen - hat Kafka diesen
innersten Bezirk der Prager Altstadt nur selten verlassen. Der Kleine Ring und die Gassen, die vom Wohnhaus
Kafkas ausgingen, die "Durchhäuser" mit ihren engen Innenhöfen, an denen sich offene Balkons, "Pawlatschen",
entlangzogen - sie waren der Spielplatz des Kindes Kafka. Vom Haus Minutà aus führte auch, im Herbst 1889,
der erste Schulweg in die Deutsche Knabenschule am Fleischmarkt. Die Kindheitseindrücke waren dreißig Jahre
später noch so stark, das er sie niederschrieb:
Unsere Köchin, eine kleine trockene, magere, . führte mich jeden Morgen in die Schule. Da ging es also zuerst
über den Ring, dann in die Teingasse, dann durch eine Art Torwölbung in die Fleischmarktgasse hinunter. Und
nun wiederholte sich jeden Morgen das Gleiche wohl ein Jahr lang. Beim Aus-dem-Haus-treten sagte die
Köchin, sie werde dem Lehrer erzählen, wie unartig ich zu hause gewesen bin. Nun war ich wahrscheinlich nicht
sehr unartig, aber doch trotzig, nichtsnutzig, traurig, böse und es hätte sich daraus wahrscheinlich immer etwas
Hübsches für den Lehrer zusammenstellen lassen.. Nun war ja die Schule schon an und für sich ein Schrecken
und jetzt wollte es mir die Köchin noch so erschweren. Ich fing an zu bitten, sie schüttelte den Kopf, je mehr ich
bat, desto wertvoller erschien mit das, um was ich bat, desto größer die Gefahr, ich blieb stehn und bat um
Verzeihung, sie zog mich fort, ich drohte ihr mit der Vergeltung durch die Eltern, sie lachte, hier war sie
allmächtig . , es schlug acht von der Jakobskirche, man hörte die Schulglocken, andere Kinder fingen zu
laufen an, vor dem Zuspätkommen hatte ich immer die größte Angst nun: sie sagte es nicht, niemals, aber
immer hatte sie die Möglichkeit und sogar eine scheinbar steigende Möglichkeit (gestern habe ich es nicht
gesagt, aber heute werde ich es ganz bestimmt sagen) und die ließ sie niemals los.
Die Gründe für diese Angstlichkeit und totenaugenhafte Ernsthaftigkeit des Kindes lagen in der elterlichen
Erziehung, soweit man davon überhaupt sprechen kann. Erziehungsskrupel hegte man damals ganz allgemein
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 2 -
nicht und schon gar nicht in Kafkas Elternhaus. Das Kind wuchs unter der Obhut von Köchinnen, Ammen und
Dienstmädchen auf. Die Eltern sah Kafka selten: Der Vater hatte in seinem ständig vergrößernden Geschäft ein
polterndes Domizil aufgeschlagen, und die Mutter mußte stets um ihn sein, als Hilfe und als Ausgleich gegenüber
den Angestellten, die dem Vater als Vieh, Hunde und bezahlte Feinde galten. Die Erziehung beschränkte sich
auf die Anwesenheit bei Tisch und Befehle, denn auch abends mußte die Mutter dem Vater stets Gesellschaft
leisten beim gewöhnlichen Kartenspiel mit Ausrufen, Lachen und Streit. Pfeifen nicht zu vergessen.
In dieser dumpfen, giftreichen, kinderauszehrenden Luft des schön eingerichteten Familienzimmers wuchs das
Kind auf, die knappen Befehle des Vaters blieben ihm unbegreiflich und rätselhaft und es wurde schließlich so
unsicher aller Dinge, daß ich tatsächlich nur das besaß, was ich schon in den Händen oder im Mund hielt oder
was wenigstens auf dem Wege dorthin war. Zu dieser Unsicherheit trug besonders die Richtung der väterlichen
Erziehung bei, die Kafka im Brief an den Vater bezeichnet: Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben
selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn, und in diesem Falle schien Dir das auch noch überdies
deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest.
Aufwachsend in einem meinungslosen Elternhaus, unter rätselhaften Gesetzen und in einer unverständlichen
Umwelt, blieb dem Kind nur der Abschluß nach außen: Ich blieb mit meinem Denken bei den gegenwärtigen
Dingen und ihren gegenwärtigen Zuständen.
2 Der Bildungsweg und Berufsweg
Die Vereinsamung Kafkas, das rätselhafte Sichabschließen innerhalb einer Umgebung wie Prag, die
"Anschlußmöglichkeiten" nach allen Seiten bot, wurde primär durch die pragmatische und abstrakte Erziehung
verursacht. Das kann nur bedingt als Vorwurf gegen das Elternhaus gewertet werden, dann gerade dieses Kind
hätte ein Einfühlungsvermögen verlangt, für das nicht nur dem Vater Zeit und erzieherische Anlagen fehlten,
sondern für das auch die damalige Gesellschaft kein Verständnis besaß.
2.1 Das K.K. Staats-Gymnasium
Ein Musterbeispiel ist dafür das altösterreichische humanistische Gymnasium, dem der Zehnjährige
überantwortet wurde. Kafkas Gymnasium war im Kinsky-Palais untergebracht, einem Barockbau am Altstädter
Ring, wenige Schritte von der Wohnung der Familie entfernt. Kafkas Vater hatte diesmal zielbewußt gewählt:
Nicht nur wiederum eine deutsche Schule, sondern auch das humanistische Gymnasium, aus dem die Monarchie
ihren Beamtenbedarf zu rekrutieren pflegte.
Die äußere Würde des Baues am Altstädter Ring war ein treffender Ausdruck des Geistes, der die Anstalt
beherrschte. Jahrzehntealte k. k. Schulvorschriften machten einen Kontakt zwischen Lehrer und Schüler beinahe
unmöglich, forderten Respekt und förderten einen sinnlosen Paukbetrieb, dem persönliche Interessen des
Schülers gleichgültig waren. Die Anstalt pflegte am Jahresende einen gedruckten "Bericht" herauszugeben, und
in einem dieser Berichte schreibt Kafkas Klassenordinarius (den damaligen Maßstäben nach eher ein liberaler
Pädagoge) vom vorgeschriebenen "Arbeitskalender, der für das ganze Jahr bestimmt ist", erläutert
"Collectaneenhefte für grammatikalische Mustersätze" und erklärt am Schluß, daß dies sich natürlich besonders
gegen Schüler richte, "welche die Kunst des Fabulierens von Haus aus mitbringen".
In der Bildungsmaschine, durch die Kafka acht Jahre getrieben wurde, widmete sich fast die Hälfte der
Unterrichtsstunden den beiden klassischen Sprachen. Es hieß, man werde durch das Studium des Lateinischen
und des Griechischen in den Geist der antiken Welt eingeführt. Und auch moderne Bildung sei ohne diesen Geist
nicht zu erwerben. Kafka ist der antike Geist fremd geblieben. Höchst selten findet sich in seinen Tagebüchern
und Briefen auch nur der Name eines antiken Autors. Das gehäkelte Geschichtsbild konnte von den Schülern
nicht mit gegenwärtigen sozialen und politischen Gegebenheiten verglichen werden.
Dies wurde allerdings zu einer der Voraussetzungen der "Kritik" Kafkas: Weil die Möglichkeit eines Vergleichs
nicht bestand, hat er die Gesellschaft seiner Zeit zwar abstrakter, aber mit um so unerbitterlicherer Schärfe
gesehen. Der Deutschunterricht war fast wertlos, er zielte ausschließlich auf ein zitierbares Lehrbuchwissen ab.
Der Religionsunterricht war anders aufgebaut, führte aber zu ähnlichen Ergebnissen. Das Glaubensmaterial, das
Kafka überliefert wurde, war denkbar gering. Schon die Bar-Mizwah im dreizehnten Lebensjahr bedeutete Kafka
nicht mehr als ein lächerliches Auswendiglernen da er kaum Kenntnisse im Hebräischen hatte (erst
fünfundzwanzig Jahre später begann er ein gründliches Studium).
In den letzten Gymnasialjahren wurde Kafkas Ablehnung alles Religiösen noch stärker: Ich habe in der
Erinnerung, daß ich in den Gymnasialzeiten öfters . mit Bergmann - einem Mitschüler - in einer entweder
innerlich vorgefundenen oder ihm nachgeahmten talmudischen Weise über Gott und seine Möglichkeit
disputierte. Ich knüpfte damals gern an das in einer christlichen Zeitschrift gefundene Thema an, in welchem
eine Uhr und die Welt und er Uhrmacher und Gott einander gegenübergestellt waren und die Existenz des
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 3 -
Uhrmachers jene Gottes beweisen sollte. Das konnte ich meiner Meinung nach sehr gut Bergmann gegenüber
widerlegen .
Die Unsicherheit Kafkas äußerte sich in unauffälliger Kleidung und scheuer Distanz. Ein Klassenkamerad
berichtet darüber:
"Wenn ich von Kafka etwas Charakteristisches sagen soll, dann ist es das, daß an ihm nichts Auffälliges war. Er
war immer rein und ordentlich, unauffällig und solid, aber niemals elegant gekleidet. Die Schule war für ihn
immer etwas, was ihn im Innersten nicht sehr berührte, was aber ordentlich gemacht werden mußte. Wir hatten
ihn alle sehr gern und schätzten ihn, aber niemals konnten wir mit ihm ganz intim werden, immer umgab ihn
irgendwie eine gläserne Wand. Mit seinem stillen, liebens-würdigen Lächeln öffnete er sich die Welt, aber er
verschloß sich vor ihr. Von meinen anderen Mitschülern könnte ich viel mehr sagen, weil sie als Freunde
mitteilsam waren. Was mir im Gedächtnis haftengeblieben ist, ist das Bild eines schlanken, hochgewachsenen,
jungenhaften Menschen, der so still aussah, der gut war und liebenswürdig, der freimütig jedes Andere
anerkannte und doch immer irgendwie entfernt und fremd blieb."
Die Entwicklung bis zur endgültigen Abkapselung beginnt hier, sie endet schon ein Dutzend Jahre später. Das
letzte Lebensjahrzehnt, in dem die entscheidenden Werke entstehen, ist nur noch durch die fortwährenden
vergeblichen Ausbruchsversuche aus der bereits fixierten Grundsituation gekennzeichnet.
Am Beginn dieser Entwicklung, bis zu jener Tagebucheintragung (1913) vom Wunsch nach besinnungsloser
Einsamkeit steht die Erkenntnis des Kindes, daß Schule wie Elternhaus die Eigentümlichkeit nicht dulden oder
zumindest, wie es an anderer Stelle heißt, daß meine Erziehung einen anderen Menschen aus mir machen wollte
als den, der ich geworden bin. Die verborgene Gemeinschaftssehnsucht des Abiturienten äußerte sich in dem
Wunsch nach Freundschaft, allerdings mit einer derartigen Radikalität erhofft, daß eine Erfüllung
unwahrscheinlich bleiben mußte. Die Freundschaft sollte den schon beträchtlich gestörten Kontakt nach außen
vermitteln. Diese Aufgabe fiel in der letzten Gymnasialzeit und den beiden ersten Universitätsjahren Oskar
Pollak zu, dem Reifsten der Klasse, von ausgesprochen entschiedenem Charakter, temperamentvoll, mit einem
seinem Alter weit vorauseilenden kunsthistorischen und naturwissenschaftlichen
Interesse. Pollak war in der Freundschaft zweifellos der Führende. Kafka gab ihm sogar Manuskripte zur
Beurteilung - in späteren Jahren las er höchstens Eigenes vor und forderte nie ein Urteil. In der Universitätszeit,
als Pollak sich schon von ihm zu lösen begann, schreibt Kafka an ihn: Unter allen den jungen Leuten habe ich
eigentlich nur mit Dir gesprochen, und wenn ich schon mit andern sprach, so war es nur nebenbei oder
Deinetwegen oder durch Dich oder in Beziehung auf Dich. Du warst, neben vielem anderen, auch etwas wie ein
Fenster für mich, durch das ich auf die Gassen sehen konnte. Allein konnte ich das nicht .
Unter dieser Konstellation hat zweifellos die Freundschaft gelitten, es wird nur irgendein Arm gesucht.
2.2 Die Universitätsjahre
Im Juli 1901 legte Kafka das Abitur ab und fährt für einige Wochen nach Norderney und Helgoland. Die Freiheit
nach der Entlassung aus dem trostlosen Zwang des Gymnasiums gedachte er immerhin zu nutzen. Er beginnt
vorerst, mit Oskar Pollak (und sicher unter seinem Einfluß) Chemie zu studieren, tritt aber bereits nach vierzehn
Tagen in die "erwünschte" juristische Fakultät über. Die ledernen Vorlesungen über das "Institut des römischen
Rechts", an denen er teilzunehmen hatte, konnte sein Interesse allerdings nicht wecken, und so wechselte Kafka
im Sommer wiederum die Studienrichtung und hört Kunstgeschichte und besonders Germanistik bei August
Sauer. August Sauer spielte damals eine führende Rolle im Nationalitätenhader. Er war der Initiator der
Literaturgeschichte seines Schülers Josef Nadler und schon damals ein strikter Verfechter der Theorie von der
Stammes- und Landschaftsgebundenheit der Literatur. Diese Ansichten waren Kafka fremd, und
dementsprechend finden sich in den Briefen jener Zeit an Oskar Pollak auch scharfe Angriffe gegen August
Sauer. Jedenfalls wollte Kafka Germanistik nicht mehr in Prag weiterstudieren. Der Vater weigerte sich aber ein
Studium in München zu finanzieren und so nahm er im Wintersemester wiederum das juristische Studium auf. Es
erlaubte Gleichgültigkeit und verlangte lediglich, wie Kafka schreibt, daß ich mich in den paar Monaten vor den
Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon
von tausend Mäulern vorgekaut war.
Mit dem Jusstudium schien die Schuld gegenüber dem Elternhaus abgetragen. Kafka hörte lediglich die
vorgeschriebenen Vorlesungen und promovierte nach der geforderten Mindestzahl von acht Semestern. Durch
seinen Schulfreund Pribam (dessen Vater der "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt" angehörte, deren Beamter
Kafka später wurde) wird er auch in jene führende Klasse von Industriemagnaten, Professoren und Hochadel
eingeführt, die ihm sonst verschlossen geblieben wäre. In den Semesterferien fährt Kafka regelmäßig in die
Provinz (häufig zu Verwandten), nach Liboch oder Strakonitz, meistens aber nach Triesch, einem kleinen Ort in
Mähren, wo sein Onkel Siegfried (den er bis an sein Lebensende verehrte und dessen Meinungen und Welt er in
der Erzählung Ein Landarzt andeutet) als Landarzt lebte.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 4 -
Während des Semesters besucht er regelmäßig die Aufführungen des Tschechischen oder Deutschen Theaters,
ebenso die von der "Lese- und Redehalle deutscher Studenten" veranstalteten Vorträge und Dichterlesungen.
Hier lernt Kafka Max Brod kennen, der im Oktober 1902 über Schopenhauer sprach und dabei Nietzsche als
"Schwindler" bezeichnete. "Nach diesem Vortrag", berichtet Brod, "begleitete mich Kafka, der um ein Jahr
Altere, nach Hause. Er pflegte an allen Sitzungen teilzunehmen, doch hatten wir einander bis dahin kaum
beachtet. Es wäre auch schwer gewesen, ihn zu bemerken, der so selten das Wort ergriff und dessen äußeres
Wesen überhaupt eine tiefe Unauffälligkeit war. Damals aber war er aufgeschlossener als sonst, ."
Kafkas Neigung für Nietzsche und seine Nietzsche-Lektüre gehen auf Oskar Pollak und besonders den
"Kunstwart" zurück. Diese von Nietzsche mitbegründete Halbmonatsschrift, die Kafka bereits im letzten
Gymnasialjahr abonnierte, hatte besonders auf die Jugend einen außerordentlichen Einfluß. Das "Kunstwart"-
Erlebnis machte Kafka gegenüber allen von außen angebotenen "Lösungen" nach vorsichtiger, die Umwelt wird
noch sorgfältiger geprüft. Als knapp Zwanzigjähriger spricht er mit erschütternder Selbstverständlichkeit von
einem gefrorenen Meer in uns , wenn auch gleichzeitig von der Axt, die es spalten soll. Es ist der Wunsch nach
einem empfindlicheren Gewissen und größerer Klarheit, der jetzt nach dem "Kunstwart"-Dunst um so
entschiedener durchdringt. Die Situation, in der zwischen den Dingen willkürlich Bezüge gesetzt werden, ist der
des Traumes ähnlich, und die einzige Tagebuchnotiz, in der Kafka von dieser Entscheidung in seiner Jugend
spricht, beschreibt sie:
Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Ich prüfte die
Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht
des Lebens zu gewinnen, in der das Leben zwar sein natürliches schweres Steigen und Fallen bewahre, aber
gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde.
Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit peinlich
ordent-licher Handwerksmäßigkeit zusammenzu-hämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun, und zwar nicht
so, daß man sagen könnte: "Ihm ist das Hämmern ein Nichts", sondern "Ihm ist das Hämmern ein wirkliches
Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts", wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch
wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre. Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn
sein Wunsch war kein Wunsch, es war nur eine Verteidigung, eine Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von
Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er
aber schon als sein Element fühlte. Es war damals eine Art Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend
nahm, sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten
ringsherum täuschen lassen. So hatte sich die Notwendigkeit des "Wunsches" ergeben.
Der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen, die es gleichzeitig als ein Traum, als ein Schweben
erscheinen lasse, ist in der Tat der Abschied von der Scheinwelt der Jugend. Wie schon die Lösung vom
"Kunstwart" zeigt, entwickelte sich in diesen Jahren bei Kafka die Schärfe und Unerbittlichkeit des Urteils, die
von nun an bestehen bleibt.
Unsicherheit und Selbstanalyse, Urteilsmagie und Fremdheit der Dinge, Staunen, scheue Distanz und Sehnsucht
nach Freundschaft - dies war die Welt des jungen Jurastudenten, und die Umwelt, wenn sie auch nur als Negativ
erscheint, war entschieden daran beteiligt.
Das Studium der Rechte, das Kafka auf sich genommen hatte, bedeutete besonders in den letzten Semestern eine
Qual. Den Anstrengungen dieses Paukbetriebes war er kaum gewachsen: Anfang Juli 1905 fährt Kafka in ein
Sanatorium in Zuckmantel, einem kleinen, von Wäldern und Seen umgebenen Ort. Genau zehn Jahre später
schreibt er an Max Brod: Im Grunde war ich noch niemals mit einer Frau vertraut, wenn ich zwei Fälle
ausnehme, jenen in Zuckmantel (aber dort war sie eine Frau und ich ein Junge) und jenen in Riva.
Beide Begegnungen ereigneten sich fern von Prag, über beide hat Kafka strenges Stillschweigen bewahrt.
Nach der Rückkehr nach Prag begannen jene schrecklichen Monate vor der mündlichen Prüfung zur Erlangung
des Doktorgrades, in denen Kafka sich unter reichlicher Mitnahme der Nerven förmlich von Holzmehl nährte.
Das Protokoll der Prüfung vermerkt ein knappes, "mit drei von fünf Stimmen für genügend erklärtes" Bestanden,
und auch der Prüfling gab zu, daß es sehr lustig, wenn auch nicht kenntnisreich gewesen sei. Am 18. Juni
1906 wurde Kafka zum Doktor der Rechte promoviert.
2.3 Die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt
Im Oktober 1907, ein Jahr nach der Promotion und wenige Tage nach der endgültigen Berufsentscheidung,
schreibt der vierundzwanzigjährige Franz Kafka:
Mein Leben ist jetzt ganz ungeordnet. Ich habe allerdings einen Posten mit winzigen 80 Kronen Gehalt und
unermeßlichen 8-9 Arbeitsstunden, aber die Stunden außerhalb des Bureaus fresse ich wie ein wildes Tier.
.Über die Arbeit klage ich nicht so, wie über die Faulheit der sumpfigen Zeit. Die Bureauzeit nämlich läßt sich
nicht zerteilen, noch in der letzten halben Stunde spürt man den Druck der 8 Stunden wie in der ersten. Es ist oft
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 5 -
wie bei einer Eisenbahnfahrt durch Nacht und Tag, wenn man schließlich, ganz furchtsam geworden, weder an
die Arbeit der Maschine des Zugführers, noch an das hügelige oder flache Land mehr denkt, sondern alle
Wirkung nur de Uhr zuschreibt, die man immer vor sich in der Handfläche hält . Alle Menschen, die einen
ähnlichen Beruf haben, sind so. Das Sprungbrett ihrer Lustigkeit ist die letzte Arbeitsminute. .Aber es ist nicht
nur Faulheit, auch Furcht, allgemeine Furcht vor dem Schreiben, dieser entsetzlichen Beschäftigung, die jetzt
entbehren zu müssen mein ganzes Unglück ist.
Kafka arbeitete bei der "Assicurazioni-Generali", einer privaten Versicherungsgesellschaft mit besonders
strengen Arbeitsvorschriften. Nach dem Scheitern der Freundschaft mit Oskar Pollak, übernahm in den ersten
Berufsjahren in immer stärkerem Maße Max Brod die Aufgabe des Fensters der Freundschaft. Durch ihn lernte
Kafka die nähere Umgebung Prags kennen, die Ferienreisen nach Oberitalien, Weimar, Paris oder in die Schweiz
unternahmen sie gemeinsam. Brod führte Kafka in das Prager Literatenleben ein. Er machte ihn mit dem
Philosophen und Zionisten Felix Weltsch und dem blinden Schriftsteller Oskar Baum bekannt, welche bis zu
seinem Lebensende Kafkas Freunde blieben.
Während des anstrengenden Dienstes in der "Assicurazioni Generali" setzte das Schreiben vollständig aus. Dies
war auch der Grund für Kafkas Bemühungen um eine andere Stellung, die bereits wenige Monate nach dem
Eintritt beginnen. Nach einem Dreivierteljahr verläßt Kafka die "Generali" und tritt zwei Wochen später, im
August 1908, in die "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen" ein , in der er bis zu
seiner Pensionierung (1922) arbeitet. Die Arbeitsbedingungen waren hier wesentlich günstiger, vor allem
dauerten die Bürostunden nur bis zwei Uhr nachmittags. Vorerst wurde Kafka als "Aushilfsbeamter" angestellt,
ab 1910 als "Concipist" im Beamtenverhältnis. Kafkas "Dienst-Tabelle" vermerkt dann, daß er 1913 zum
"Vizesekretär", 1920 zum "Anstaltssekretär" und 1922 zum "Obersekretär" ernannt wurde. Kurz darauf, am 1.
Juli 1922, folgte die vorzeitige Pensionierung. Bei den Beamten der Anstalt, überwiegend Tschechen, war Kafka
- das "Amtskind" - sehr beliebt, "er hatte überhaupt keinen Feind".
Kafka besuchte um 1918 regelmäßig die Vorträge und Abende im Hause Fanta, die die betreibsame
Apothekersgattin Berta Fanta veranstaltete und zu denen sie die führenden Intellektuellen Prags einlud: den
Mathematiker Kowalewski, den Physiker Frank, den Philosophen Ehrenfels und den jungen Albert Einstein.
Kafka hörte hier Referate über die Relativitätstheorie, die Plancksche Quantentheorie und die Grundlagen der
Psychoanalyse. Er lernte also, kurz vor der Niederschrift seiner Hauptwerke, die bedeutendsten Fragestellungen
des neuen Zeitalters kennen.
Kafka beschäftigte sich neuerlich mit den religiösen Problemen. Kafka fand seine Neigung für die "lebendigere"
Religion der Ostjuden, mit der er zum erstenmal in den Jahren 1910 und 1911 durch Gastspiele einer jidischen
Schauspieltruppe aus Lemberg in Berührung kommt, die das offiziöse Prager Judentum selbstverständlich nicht
zur Kenntnis nahm. Die Schauspieler wurden als Hungerleider, Herumfahrende, Mitjuden verachtet , die
jidischen Theaterstücke galten als Schmiere, das Lokal als zweifelhaft. Kafka besuchte regelmäßig die
Aufführungen und befreundete sich, sehr zum Arger seines Vaters, mit einem der Schauspieler, Jizchak Löwy,
und korrespondierte in den nächsten Jahren mit ihm.
3 Die Entstehung seiner wichtigsten Werke
1912 ist die Vereinsamung, Versteinerung, abgeschlossen und kaum mehr von außen beeinflußbar. In einer
Rezension der Zeitschrift "Hyperion", die ihr Erscheinen eingestellt hatte (in ihr waren auch die ersten Arbeiten
Kafkas erschienen), schreibt Kafka:
Diejenigen, welche ihre Natur von der Gemeinschaft fernhält . brauchen auch keine Verteidigung, denn das
Unverständnis kann sie nicht treffen, weil sie dunkel sind, und die Liebe findet sie überall; sie brauchen auch
keine Kräftigung, denn, wenn sie wahrhaftig bleiben wollen, können sie nur von sich selbst zehren, so daß man
ihnen nicht helfen kann, ohne ihnen vorher zu schaden.
Durch die Kräftekonzentration entstehen im Herbst dieses Jahres die ersten Hauptwerke: der größte Teil des
Romans Der Verschollene (Amerika) und die beiden "Geschichten" Das Urteil und Die Verwandlung. Zuerst
wurde in der Nacht vom 22. auf den 23. September, Das Urteil niedergeschrieben. Unmittelbar darauf trägt
Kafka ins Tagebuch ein: Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte,
wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken..
Der Verschollene wird nur noch langsam fortgeführt und einen Monat später - bis Herbst 1914 - liegen gelassen.
Auch die beiden späteren Versuche in der großen epischen Form, Der Prozeß und Das Schloß, blieben Fragment.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 6 -
F., Felice Bauer (seine spätere Verlobte), lernte Kafka am 13. August 1912 bei Max Brod kennen. Ende Oktober
beginnt eine über Jahre (bis 1917) dauernde Korrespondenz. Kafka löst jedoch die drei Verlobungen (1914,
1917, 1919) wieder auf, ebenso die Verbindungen mit G.W. (1913), Grete Bloch (ab 1914) und Milena (ab
1920), nur die letzte mit Dora Diamant, ein halbes Jahr vor seinem Tode, war von einer gewissen Euphorie
überstrahlt. Diese Heiratsversuche und Freundschaften zu Frauen standen allerdings noch unter einer zusätzlichen
Belastung - den zweifelhaften Auffassungen von Sexualität., Ehe und Moral der Gesellschaft vor dem Ersten
Weltkrieg, die auch Kafkas Vater teilte. Dieselbe sexuelle Etikette, die die Bürgertöchter dem Virginitätsideal
unterwarf, verpflichtete die Bürgersöhne zu Kenntnissen und Erfahrungen, die sie infolgedessen nur im Bordell
erwerben konnten. So gab es in Prag auch zahlreiche Bordelle, und einige genossen unter den Rouès und
Literaten hohes Ansehen. Kafkas Begegnungen mit Huren unterschieden sich von denen seiner Zeitgenossen.
Auch sie waren verborgene Gemeinschaftssehnsucht. Die wenigen Be-ziehungen zu solchen Frauen hat Kafka
später als unrein angesehen. Um so bezeichnender, daß fast nur dieses Bild der Frau in den großen Romanen
erscheint, schon im Verschollenen als Brunelda, als aufgedunsener Fleischkoloß, besonders in den beiden
späteren Romanen, unter den zweideutigen Namen Fräulein Bürstner oder den Dienstmädchen Leni und Frieda,
als Waschweiber, als ausgehaltene Geliebte von Advokaten, Kastellanen und Beamten.
3.1 "Die Söhne"- Drei Geschichten
Kafka entwickelte eine editorische Idee, die er seinem Verleger am 11. April 1913 in einem Brief vortrug. "Mir
liegt eben an der Einheit der drei Geschichten nicht weniger als an der Einheit einer von ihnen", denn: "es besteht
zwischen ihnen eine offenbare und noch mehr eine geheime Verbindung, auf deren Darstellung durch
Zusammenfassung in einem etwa "Die Söhne" betitelten Buch ich nicht verzichten möchte." Alle 1912
entstandenen Geschichten bezeichnen den vergeblichen Kampf der Söhne gegen den Väter.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 7 -
3.1.1 "Das Urteil"
Es ist ein Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann. Er hat gerade einen
Brief an seinen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, und sieht aus dem Fenster. Er denkt über
seinen Freund nach, der sich schon vor Jahren nach Rußland förmlich geflüchtet hat. Nun betreibt er ein Geschäft
in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hat, seit langem aber schon zu stocken scheint. Man sollte
ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, aber das bedeutet, daß man ihm gleichzeitig, je schonender,
desto kränkender, sagt, daß seine bisherigen Versuche mißlungen sind. Unter den gegebenen Umständen ist es
vielleicht doch besser, er bleibt in der Fremde, so wie er ist.
Georg hat seinem Freund in allen seinen Briefen nur über belanglose Dinge geschrieben. Weder den Aufstieg des
Geschäftes, das er gemeinsam mit dem Vater führt, noch seine Verlobung und baldige Heirat, hat er ihm
mitgeteilt. Aus Rücksicht auf seine Gefühle. Seine Verlobte, das Fräulein Frieda Brandfeld, will den Freund in
der Ferne aber gerne kennenlernen und die Hochzeit bietet sich als Anlaß an. Nach kurzem Überlegen entschließt
sich Georg doch, dem Freund von der Hochzeit zu schreiben und ihn zu einem Besuch einzuladen. "So bin ich
und so hat er mich hinzunehmen", sagte er sich.
Er steckt den Brief in die Tasche und geht in das Zimmer des Vaters. Selbst an diesem sonnigen Vormittag ist es
in dem Zimmer dunkel. Der Vater begrüßt ihn freundlich und
Georg erzählt von dem Brief und der Einladung an seinen Freund in Petersburg. Daraufhin stellt der Vater die
Existenz des Freundes in Rußland in Frage, und bezichtigt Georg ein Spaßmacher zu sein, der sich auch ihm
gegenüber nicht zurückhalten kann. Georg versucht ihn zu beruhigen und überredet ihn, sich niederzulegen. Er
entkleidet den Vater und trägt ihn zu seinem Bett. Doch nachdem er den Vater zugedeckt hat, schleudert der
Vater die Decke von sich und sitzt aufrecht im Bett. Er beginnt von dem Freund in Rußland als einen Sohn nach
seinem Geschmack zu erzählen und beschuldigt Georg in unterkriegen zu wollen, weil er eine Frau heiraten will,
mit der er nur zusammen ist, weil sie "die Röcke gehoben" hat.
Der Freund sei nun doch nicht verraten, da er ihm über alle Neuigkeiten genauestens geschrieben hat. Die Briefe
Georgs zerreiße er ungelesen in der linken Hand. Er wisse alles tausendmal besser als Georg. Der Vater verurteilt
ihn als teuflischen Menschen und läßt ihn wissen, daß er ihn zum Tode des Ertrinkens verurteilt.
Georg fühlt sich aus dem Zimmer gejagt und läuft zum Fluß. Er schwingt sich über das Geländer, hält sich aber
noch kurz fest und sagt: " Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt". Dann läßt er los und fällt in den Tod.
Interpretation
In dieser Geschichte stehen sich Vater und Sohn wie zwei Duellanten gegenüber. Der Sohn scheint der
Überlegene zu sein. Er hat den alten, verwitweten Vater praktisch entmachtet, er hat die Leitung des Geschäftes
übernommen und Erfolg gehabt. Er hat sich verlobt, bereitet sich also darauf vor, sich auch im privaten Bereich
die Rolle eines Familienoberhauptes anzueignen. Georg Mendemanns Illusionen werden zerstört. Sein Vater
erweist sich als immer noch "zu stark" für ihn, er ist "immer noch ein Riese". Als einen solchen Riesen hat Kafka
sich oft den eigenen Vater vorgestellt.
Die Geste des Hochhebens und Tragens kommt auch in Das Urteil vor. Nur ist es hier der Sohn, der sie ausführt
und den anderen in das Bett hineinträgt, so wie man es mit einem kranken Kind macht. Gerade auf dem
scheinbaren Höhepunkt seines Triumphes angelangt, wird der Sohn mit einigen wenigen Schlägen vernichtet. Er
wird angeklagt und kann sich mit Worten nicht verteidigen. Auch hier führt ein Linie zu Kafkas Erlebnissen mit
dem eigenen Vater zurück: "Die Unmöglichkeit des ruhigen Verkehrs hatte noch eine weitere eigentlich sehr
natürliche Folge: ich verlernte das Reden. Ich wäre ja wohl auch sonst kein großer Redner geworden, aber die
gewöhnlich fließende menschliche Sprache hätte ich doch beherrscht. Du hast mir aber schon früh das Wort
verboten. Deine Drohung: "kein Wort der Widerrede!" und die dazu erhobene Hand begleitete mich seit jeher
Der leibliche Sohn wird verdammt. Georg Bendemann vollzieht das Urteil an sich selbst, er ist zu schwach, um
dem Spruch des Vaters zu widerstehen. Er ist nicht wirklich schuldig, aber in ihm ist Schuldbewußtsein erzeugt
worden.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 8 -
3.1.2 "Der Heizer"
Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt wird, weil ihn ein
Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hat, in den Hafen von New York einfährt, erblickt er
die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin. Während Karl die Statue fasziniert betrachtet, macht in
ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden ist, darauf aufmerksam, daß alle
Passagiere das Schiff verlassen. Karl beobachtet die aussteigenden Leute und merkt bestürzt, daß er seinen
Regenschirm unten im Schiff vergessen hat. Er bittet den jungen Mann auf seinen Koffer aufzupassen, und eilt
davon.
Sein Weg führt ihn durch eine Unzahl kleiner Räume, über kurze Treppen, durch fortwährend abbiegende
Korridore, bis er sich tatsächlich ganz und gar verirrt hat. In seiner Ratlosigkeit klopft er an eine kleine Tür, und
es ruft von innen "Es ist ja offen". Karl tritt vorsichtig in den kleinen Raum ein. Es ist das Zimmer des
Schiffsheizers, der seine Sachen packt um von Bord zu gehen. Dieser erzählt ihm von der ungerechten
Behandlung durch seinen Vorgesetzten, einem Rumänen namens Schubal, der seine Arbeit nicht zu schätzen
weiß. Karl will dem Heizer helfen, und schlägt vor mit dem Kapitän des Schiffes zu reden. Dieser Vorschlag
wird allerdings als eher lächerlich abgetan. Der Heizer macht sich zusammen mit Karl auf den Weg zum
Kassaraum. Er klopft respektvoll an die Türe an und fordert, als man "herein" ruft, Karl auf, ohne Furcht
einzutreten. Von den drei Fenstern des Zimmers sieht man große Schiffe gegenseitig ihre Wege kreuzen.
An einem runden Tisch sitzen drei Herren, der eine ein Schiffsoffizier in blauer Schiffsuniform, die zwei
anderen, Beamte der Hafenbehörde, in schwarzen, amerikanischen Uniformen. Am Fenster sitzt an einem
Schreibtisch ein kleiner Herr, der mit großen Folianten hantiert. In der Nähe des dritten Fensters stehen zwei
Herren in halblautem Gespräch. Einer trägt auch die Schiffsuniform, derjenige, mit dem er spricht, ist in Zivil
und hat ein dünnes Bambusstöckchen.
Der Heizer bittet um ein Gespräch mit dem Herrn Oberkassier, wird aber darauf aufmerksam gemacht das seine
Anwesenheit hier nicht erwünscht ist. Da läuft Karl quer durchs Zimmer bis zum Tisch des Oberkassiers und
zieht so die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er berichtet von der ungerechten Behandlung die dem Heizer durch
Schubal widerfahren ist und erlangt damit das Interesse des Kapitäns, dem in Schiffsuniform gekleideten Mann in
der Nähe des Fensters. Der Heizer trägt seine Klagen dem Kapitän vor, allerdings in einer so wirren und
ungeordneten Weise, daß ein Zuhörer nach dem Anderen das Interesse verliert und den Heizer als lästige Störung
empfindet. Karl fällt dem Heizer ins Wort um seinen Redeschwall zu unterbrechen. Inzwischen hat Schubal von
dem Vorfall erfahren und betritt den Raum um sich zu verteidigen. Er wird aber davon abgehalten, da der Mann
mit dem Bambusstöckchen Karl nach seinem Namen fragt. Es stellt sich heraus des es sich um Karls Onkel
handelt, eine wohlhabenden, einflußreichen Senator. Er hat von dem Dienstmädchen, welches ein Kind von Karl
bekam, einen Brief mit genauer Beschreibung Karls bekommen.
Karl sieht keine Möglichkeit mehr dem Heizer zu helfen, und der Onkel bewegt ihn, das Schiff zu verlassen, da
sie schon viel zu lange die wertvolle Zeit des Kapitäns in Anspruch genommen haben. Karl muß sich vom Heizer
verabschieden und verläßt traurig das Schiff um mit dem Onkel an Land zu gehen.
Interpretation
Karl scheint gut gerüstet zu sein, im mythischen Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein neues Leben zu
beginnen. Aber "schuldlos" bedeutet auch so viel wie naiv und unerfahren. Wegen eines vergleichsweise
wertlosen Regenschirms, gibt er seinen Koffer preis, der seine ganze materielle Habe enthält. Er verirrt sich in
dem riesigen Schiff, so wie sich im Märchen ein Kind im Wald verläuft. Er muß bei einem Erwachsenen Hilfe
suchen. Dieser, der Heizer, ist ein "riesiger Mann", der das Kind sofort ins Bett beordert. Aber Karl besteht die
Kraftprobe gegen diese Vaterfigur, denn angesichts seiner Vorgesetzten wird der Heizer selber zum Kind, das
sich nicht verteidigen kann, weil es nicht gut genug reden kann. Für einen kurzen Augenblick werden die Rollen
vertauscht. Der Heizer wird zu Karls Schützling. Der Onkel ist es dann, der diesen Emanzipationsversuch zu
nichte macht. Karls Rede verwirrt sich, als er den ihm noch unbekannten Mann das erste Mal sieht. Als er dann
die Aner-kennung ausgesprochen hat, "Du bist mein Onkel", wird ihm sofort alles genommen, was er besitzt:
seine Freiheit und der Freund. Am Ende der Geschichte verläßt Karl weinend wie ein kleiner Junge an der Hand
des Onkels das Schiff. Auch diese Geschichte endet also mit der Niederlage des Sohnes.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 9 -
3.1.3 "Die Verwandlung"
Grregorr iistt Reiisenderr und errhälltt miitt seiinem Lohn seiine Elltterrn und seiine Schwestterr . Err
rrechnett damiitt , das jjeden Momentt eiin Beauffttrragtterr seiinerr Fiirrma auffttauchen könntte . Seiine
Elltterrn kllopffen an seiine Türr und wollllen siich nach iihm errkundiigen , doch Grregorr brriingtt nurr
noch ttiierriisch verrzerrrrtte Lautte herraus , was err sellberr aberr noch niichtt merrktt . Derr Prrokurriistt derr
Fiirrma ttrriifffftt eiin und drrohtt Grregorr iihn zu enttllassen , wenn diieserr niichtt Augenblliicklliich aus
seiinem Ziimmerr herrauskäme . Grregor gelliingtt es durrch heffttiiges schaukelln aus dem Betttt zu
ffalllen und auff diie Türr zuzukrriiechen . Durrch seiine kllebrigen Ballllen geliingtt es iihm , siich an derr
Türr auffzurriichtten und miitt seiinem Kiieferr den Schllüssell umzudrehen
Derr Prrokurriistt errblliicktt Grregorr zuerrstt . Kurrz auffschrreiiend wendett err seiin Gesiichtt ab und
ffllüchttett Riichttung Hausttürr . Grregorr verrsttehtt das alllles niichtt . Err verrsprriichtt dem Prrokurriistten siich
sofforrtt anzuziiehen und den nächstten Zug zu nehmen . Doch derr Prrokurriistt , derr diie Hausttürr
berreiitts errrreiichtt hatt , sttarrrrtt iihn nurr ffassungsllos an und lläufftt schlliießlliich auff diie Sttrraße hiinaus
Grregorrs Mutttterr weiichtt enttsettztt iin diie Küche aus und derr Vatterr verrsuchtt Grregorr miitt eiinem
Sttock iin seiin Ziimmerr zu ttrreiiben . Doch Grregorr hatt noch keiine Übung iim Rückwärrttsgehen
allso verrsuchtt err siich umzudrrehen . Derr Vatterr diirriigiierrtt Grregorrs Drrehbewegung miitt seiinem
Sttock und alls Grregorr endlliich beii seiinerr Ziimmerrttürr angellangtt iistt , giibtt iihm derr Vatterr eiinen
Trriitttt , sodaß err durrch diie Türr iin seiin Ziimmerr fflliiegtt
Diie Ziimmerrttürre wiirrd von außen verrschllossen und Grregorr verrkrriiechtt siich lleiichtt verrllettztt untterr
dem Kanapee , wo err auch diie Nachtt verrbrriingtt . Am nächsten Morrgen bettrriitttt seiine Schwesterr
alls Errstte seiin Ziimmerr . Ohne Gregorr anzusehen , derr ffastt völlliig von dem Kanapee verrdecktt
wirrd , brriingtt sie iihm verrschiiedene Speiisen herreiin . Allttes , hallbverrffaulttes Gemüse , Knochen
vom Nachttmahll herr , eiin Paarr Rosiinen und Mandelln , eiinen Käse , den Grregorr vorr zweii Tagen
ffürr ungeniießbarr errkllärrtt hatt und eiin paarr Brrotte . Alls seiine Schwestterr aus dem Ziimmerr iistt
krrabbelltt err sofforrtt zu dem Käse und begiinntt giierriig darran zu saugen . Auch das Gemüse
schmecktt iihm . Diie ffrriischen Speiisen dagegen rrührrtt err niichtt an . Nach derr ausgiiebiigen
Mahllzeiitt lliiegtt err ffaull am Boden herrum , doch alls err diie Schrriitttte seiinerr Schwestterr hörrtt
krrabbelltt err schnellll untterr das Kanapee . Seiine Schwestterr kehrrtt miitt eiinem Besen alllle
Speiiserrestte zusammen und wiirrfftt siie iin eiinen Kübell . So bekommtt Grregorr nun jjeden Tag
zweiimall seiin Essen
Nach eiiniigen Tagen , das ewiige lliiegen niichtt mehrr errttrragend , niimmtt Grregorr zurr Zerrsttrreuung
diie Gewohnheiitt an , krreuz und querr überr Wände und Pllaffond zu krriiechen . Diie Schwesterr
bemerrktt sofforrtt diie neue Untterhallttung , die Grregorr ffürr siich geffunden hatt . Siie schllägt ihrrerr
Muttter vor , diie Möbel aus Gregorrs Ziimmerr zu schafffen , damiitt err mehr Pllattz zum Krriiechen
hatt . Am nächstten Tag machen siie siich darran den grroßen Kastten aus dem Ziimmerr zu ttrragen
Grregorr lliiegtt wiiederr untterr dem Kanapee und siiehtt derr Umsiiedllung seiinerr Möbell zu . Doch
mehrr alls den Kastten wiillll err niichtt aus dem Ziimmerr haben . Err wiillll niichtt das alllles menschlliiche
aus seiinem Ziimmerr gettrragen wiirrd , denn err hatt noch iimmerr Hoffffnung siich wiiederr
Rückzuverrwandelln
Grregorr krriiechtt untterr dem Kanapee herrvorr und diie Wand biis zu eiinem Biilld hoch . Diieses
umkllammerrtt err . Alls seiine Mutttterr und seiine Schwestterr wiiederr das Ziimmerr bettrretten , sehen siie
Grregorr an derr Wand hängen . Diie Mutttterr wiirrd auff derr Sttelllle ohnmächttiig und diie Schwestterr
begiinntt miitt Grregorr zu schiimpffen . Diie Schwestterr brriingtt diie Mutttterr iin diie Küche wo siie miitt
Riiechsallz verrsuchtt diie Mutttterr wiiederr auffzuwecken . Auch Grregorr hatt seiin Ziimmerr verrllassen
um seinerr Schwestterr zu hellffen , doch err kann nurr hillffllos zusehen . Pllöttzlliich kommtt seiin Vaterr
beii derr Hausttüre herreiin und alls er bemerrktt was passiierrtt iistt begiinntt err Grregorr durch das
Wohnzimmerr zu jjagen . Obstt nach Grregorr werrffend lläuft err iim Ziimmerr herrum . Eiiniige Apfell
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 10 -
sttrreiiffen Grregorrs Rücken , doch eiinerr drriingtt dagegen fförrmlliich iin Grregorrs Rücken eiin und err
verrlliierrtt seiin Bewußttseiin
An der Verletzung leidet Gregor über einen Monat, da ihm niemand den Apfel entfernt und dieser als Andenken
im Fleisch sitzenbleibt. Gregor wird immer schwächer da er keine Nahrung mehr zu sich nimmt und kann sich am
Ende kaum noch auf den Beinchen halten. Für seine Familie wird Gregor zu einem immer größeren Problem, da
es durch ihn nicht möglich ist Untermieter aufzunehmen. Sie überlegen sich wie sie ihn loswerden könnten. Doch
eines Morgens findet die Haushälterin Gregor tot im Zimmer. Mit den Worten 'Seht nur, es ist krepiert; da liegt
er, ganz und gar krepiert' teilt sie der Familie Gregors Tot mit. Nachdem sie den Leichnam aus dem Haus
transportiert haben machen sie einen Ausflug ins Grüne und planen ihre Zukunft neu.
Interpretation
Die Verwandlung ist das Resultat einer Krise, die Arbeit an dem mit großen Hoffnungen begonnenen Roman
schritt nicht mehr voran, der Konflikt mit der Familie hatte sich zugespitzt. Auch dieser Text ist ein Versuch, sich
zur Wehr zu setzen, ein Versuch, der wesentlich aggressiver ausfällt als alle vorangegangenen. Wenige Tage
bevor er mit der Arbeit an der Geschichte begann, berichtete Kafka Felice über sein Verhältnis zu seiner Familie:
er nennt seine jüngste Schwester, Ottla, seine "beste Prager Freundin", erwähnt auch die beiden anderen
Schwestern als "teilnehmend und gut", um dann mit der Bemerkung zu schließen: "Nur der Vater und ich, wir
hassen uns tapfer".
Etwas von diesem "Haß" ist in der Erzählung spürbar. Die Andersartigkeit des Sohnes ist über Nacht deutlich zu
tage getreten: er hat sich in ein ungeheures Ungeziefer, in einen Parasiten verwandelt. Gregor Samsa liegt zur
Untätigkeit verdammt in seinem Zimmer. Seine Rolle ist die eines Beobachters. Er prüft die Familie, prüft, ob sie
es dazu bringen, ihn in seiner Andersartigkeit zu tolerieren und zu akzeptieren.
Kafka hat für die Niederschrift dieser Geschichte ein eigenes Heft benutzt, in das er auch später keine anderen
Texte mehr eintrug. Die Erzählung hat den Charakter einer Anklageschrift. Der schreibende Sohn, den der Vater
in die Rolle eines erfolgreichen Geschäftsmanns drängen will, bekennt sich dazu, daß er einen anderen Sinn im
Leben sieht.
Die Familie ist nicht dazu bereit, den Parasiten Gregor zu dulden. Der Vater benimmt sich von allem Anfang an
feindselig, fügt dem Sohn schließlich sogar eine lebensgefährliche Verletzung zu. Die Mutter setzt Gregor immer
wieder den Angriffen des Vaters aus. Die Schwester, auf die Gregor die größten Hoffnungen setzt, versucht ihm
zunächst zu helfen, läßt ihn aber im Stich, als ihre eigene Existenz durch ihn bedroht wird. Sie ist es sogar, die
am Ende die Initiative ergreift und beschließt, daß jenes ekelhafte "es" endlich "weg muß", sie spricht also den
Urteilsspruch aus.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 11 -
3.2 "Der Proceß"
Josef K. wacht eines Morgens auf und wartet darauf, daß ihm die Köchin der Frau Grubach sein Frühstück ans
Bett bringt. Doch anstatt des Mädchens tritt ein fremder Mann ein, der alle Fragen Ks über seinen
Erscheinungsgrund übergeht. K betritt das Nebenzimmer, wo drei weitere Herren auf ihn warten. Sie erklären K.
für verhaftet. Über den Grund der Verhaftung können sie keine Auskunft geben und drängen K. darauf, wieder
zurück in sein Zimmer zu gehen, sich ordentlich anzuziehen und auf ihren Vorgesetzten zu warten. K. muß
nachgeben und zieht sich in sein Zimmer zurück bis die Ankunft des Vorgesetzten gemeldet wird.
Er wird von zwei Wächtern aus seinem Zimmer in ein für ein Verhör vorbereitetes Zimmer gebracht, wo er sich
zu einem kleinen Tisch setzt. Auch der Vorgesetzte kann K. über den Grund der Verhaftung keine Auskunft
geben, teilt ihm aber mit das ein Proceß gegen ihn läuft. Die Herren verabschieden sich und verlassen die
Wohnung. K. kann darf sich frei bewegen obwohl er verhaftet wurde, er muß sich aber um seinen Proceß
kümmern.
Den Proceß nicht sehr ernst nehmend, führt K. sein Leben als Angestellter einer Bank fort bis er einen Anruf
erhält, das er sich beim Gericht einzufinden hat. Die Adresse des Gerichts führt ihn in ein verwahrlostes Viertel.
Mit Mühe findet er den Gerichtssaal in einem heruntergekommenen Haus, in einer für den Proceß hergerichteten
Wohnung. K. erscheint das Auftreten des Gerichts als lächerlich und fühlt sich überlegen, was er auch in einer
Rede an den Richter und die vielen anderen Beamten des Gerichts ausdrückt. Dir Türe des Gerichtszimmers
zuschlagend verläßt er die Verhandlung, ihn der er auch nicht den Anklagepunkte seines Processes erfahren hat.
Nach einer Woche begibt sich K. wieder zu dem Gerichtszimmer, findet es aber leer vor. Er trifft einen
Gerichtsdiener, der ihm anbietet, ihn durch die Verwaltungsräume des Gerichts zu führen. K. folgt ihm eine
Treppe hinauf zum Dachboden des Hauses, in dem sich die Zimmer der Gerichtsbeamten befinden. Entlang der
Gänge sitzen andere Angeklagte, die auf die Erledigung eines ihrer Anträge warten. Eingeschüchtert, starr und
ruhig warten sie. Manche kommen schon seit vielen Jahren hierher. K. beginnt sich ernste Sorgen um seinen
Proceß zu machen.
Ks Onkel kommt zu Besuch. Er hat von seinem Proceß erfahren und bringt ihn zu einem alten Freund der
Familie, dem Advokaten Dr. Huld. Dieser verspricht, sich für K. einzusetzen und seine Beziehungen zu den
Beamten des Gerichts spielen zu lassen, denn nur damit sei ein Proceß zu gewinnen. Monate vergehen und K.
wird es leid die ewigen Vertröstungen und Selbstverherlichungen des Advokaten anzuhören. Nach Ks Meinung
bringt der Advokat den Proceß nicht in Gang, es geschieht nichts. So beschließt er, seinen Advokaten zu
entlassen und selbst für den Fortgang seines Processes zu sorgen. Der Advokat teilt K. aber noch mit, das es um
seinen Proceß nicht gut steht.
Aufgrund eines Kundentreffens begibt sich K. in den Dom, wo ihn ein Geistlicher in ein Gespräch verwickelt. Er
erzählt ihm die Geschichte des Torhüters, der das Tor des Gesetzes bewacht und niemandem Eintritt gewähren
darf.
Eines Tages, es ist K. Geburtstag, kommen zwei dicke, schwarz gekleidete Männer in Ks Zimmer und nehmen
ihn mit. Sie gehen gemeinsam aus der Stadt zu einem alten Steinbruch. Dort erfährt K. den Ausgang seines
Processes. Er wird hingerichtet.
Interpretation
Der Roman ist als eine Art Strafphantasie zu sehen: Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages wird
Josef K. umgebracht, am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages entschließt sich Kafka, nach Berlin zu
fahren, um das Verlöbnis mit Felice zu lösen. Der Prozeß ist sehr deutlich auf die Erzählung vom Torhüter hin
gearbeitet. Es ist nicht nur eine der berühmtesten Erzählungen Kafkas, sondern sie war dem Autor auch eine der
liebsten.
Alles das Gericht betreffende ist von den üblichen Normen abweichend, scheint keinen Sinn zu ergeben und
verworren zu sein. Die überfallsartige Verhaftung ohne K. jedoch in Gewahrsam zu nehmen, die Verhandlung in
einer umgebauten Wohnung an einem Sonntag Morgen. Allem diesen versucht sich K. entgegenzustellen und mit
seiner Redekunst und Handlungsweise das Gericht zu entmächtigen, ins Lächerliche zu ziehen. Doch der
komplizierte Apparat ist mächtiger und toleriert Ks Verhalten nur in eingeschränktem Maß. Schließlich muß K
einsehen, daß es keinen Sinn hat sich zu wehren, doch es ist zu spät für ihn. Wehrlos und den Tod schon faßt
erflehend wird er von den Dienern des Gerichts getötet.
4 Der Tod Franz Kafkas
Die letzte Phase verbrachte Kafka zusammen mit Dora Diamant. Sie mieteten eine Wohnung in Steglitz, und in
den ersten Monaten ist Kafka sehr glücklich. Er hatte endlich, gegen alle Widerstände, den Wegzug von Prag
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 12 -
durchgesetzt, unvermutet besitzt er einen eigenen "Hausstand". Seinem Freund Felix Weltsch beschreibt er die
neue Umgebung: .meine Gasse ist etwa die letzte halb städtische, hinter ihr löst sich das Land in Gärten und
Villen auf, alle üppige Gärten. An lauen Abenden ist ein so starker Duft, wie ich ihn von anderswoher kaum
kenne. Dann ist da noch der große Botanische Garten, eine Viertelstunde von mir, und der Wald, wo ich
allerdings noch nicht war, keine volle halbe Stunde. Die Einfassung des kleinen Auswanderers ist also schön.
Nach sechs Wochen hatte er umziehen müssen, in der ersten Wohnung gefiel der Wirtin der etwas zweifelhafte
"Hausstand" wohl nicht. Hatte Kafka Brod bei einem seiner ersten Besuche noch gesagt: Ich bin den Dämonen
entwischt, diese Übersiedlung nach Berlin war großartig, jetzt suchen sie mich, finden mich aber nicht,
wenigstens vorläufig nicht.
Wenige Wochen nach dem Umzug schreibt Kafka in seinem letzten Brief an Milena. die alten Leiden haben
mich auch hier aufgefunden, angefallen und ein wenig niedergeworfen Die Tuberkulose schritt in den
folgenden Monaten rasch fort, besonders durch die schlechte Ernährung. Im Januar 1924 heißt es in einem Brief
an Max Brod:
Wäre das Wesen nur nicht so hinfällig, man könnte ja die Erscheinung fast aufzeichnen: links stützt ihn etwa
Dora; rechts etwa jener Mann; den Nacken könnte ihm z.B. irgendein "Gekritzel" steifen, wenn jetzt nur noch
der Boden unter ihm gefestigt wäre, der Abgrund vor ihm zugeschüttet, die Geier um seinen Kopf verjagt, der
Sturm über ihm besänftigt, wenn das alles geschehen würde, nun, dann ginge es ja ein wenig.
Anfang März 1924 verschlimmert sich der Zustand so stark, daß Onkel Siegfried und Max Brod nach Berlin
kommen und Kafka nach Prag bringen; die Tuberkulose hatte auch seinen Kehlkopf ergriffen, eine Heilung war
ausgeschlossen. Anfang April wird Kafka in das Sanatorium Wiener Wald gebracht, von dort in die
Universitätsklinik in Wien, Ende April in das Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg. Dora
Diamant ist Tag und Nacht bei Kafka. Der lebenslange Freund Max Brod besucht ihn noch einmal. Am 3. Juni
1924, einen Monat vor seinem einundvierzigsten Geburtstag, stirbt Franz Kafka und wird in Prag beigesetzt, in
der Stadt, die er haßte und liebte, die er immer verlassen wollte aber die ihn doch festhielt.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 13 -
5 Zeittafel
1883 Franz Kafka wird am 3. Juli als erstes Kind des Kaufmanns Herrmann
Kafka und seiner Frau Julie, geb. Löwy in Prag geboren.
1889-1901 Besuch der Volksschule am Fleischmarkt, ab 1893 des Altstädter
Deutschen Gymnasiums. Im Sommer 1901 Abitur.
1901-1906 Studium an der Deutschen Universität in Prag; zunächst Besuch von
Veranstaltungen in Chemie, Germanistik und Kunstgeschichte, dann Entscheidung
für das Jura-Studium.
1902 Im Oktober erste Begegnung mit Max Brod.
1904 Beginn der Arbeit an der ersten Fassung von "Beschreibung eines
Kampfes".
1906 Im Juni Promotion zum Doktor der Rechte.
1906-1907 Rechtspraktikum am Landes- und am Strafgericht.
1907 Beginn der Arbeit an der ersten Fassung von
"Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande".
1907-1908 Anstellung bei der Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali in
Prag.
1908 Im März erste Veröffentlichung: In der Zweimonatsschrift "Hyperion"
erscheinen kleine Prosastücke unter dem Titel "Betrachtung"; am 30. Juli
Eintritt in die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in
Prag.
1909 Im Frühsommer Beginn der Eintragungen ins erste Tagebuchheft; im
September Reise mit Max und Otto Brod nach Norditalien; es entsteht der kurz darauf
in der Prager Tageszeitung "Bohemia" publizierte Bericht "Die Aeroplane in Brescia"; im
Herbst Arbeit an der zweiten Fassung von "Beschreibung eines Kampfes".
1910 Ende März erscheint eine Auswahl kürzerer Prosatexte unter dem Titel
"Betrachtungen" in der "Bohemia"; im Oktober Reise mit Max und Otto
Brod nach Paris
1911 Im Sommer Reise mit Max Brod in die Schweiz, nach Norditalien und
Paris; Ende September Aufenthalt im Sanatorium Erlenbach bei
Zürich; Begegnung mit einer mehrere Monate in Prag gastierenden jidischen
Schauspieltruppe.
1912 Im Sommer Reise mit Max Brod nach Leipzig und Weimar,
anschließend Aufenthalt im Naturheilsanatorium Jungborn bei
Stapelburg im Harz; im August erste Begegnung mit der Berlinerin Felice Bauer in
Prag, im September Beginn der Korrespondenz mit ihr; es entstehen u.a. die Erzählungen
"Das Urteil" und "Die Verwandlung", und Kafka beginnt mit der Niederschrift des
Romans "Der Verschollene"; unter dem Titel "Betrachtung" erscheint im
Dezember Kafkas erstes Buch.
1913 Reger Briefwechsel mit Felice Bauer; Ende Mai erscheint "Der
Heizer". Ein Fragment im Kurt Wolff Verlag in der Buchreihe "Der jüngste
Tag", im Juni "Das Urteil" im Jahrbuch "Arkadia"; im September Reise nach
Wien, Venedig und Riva.
1914 Am 1. Juni offizielle Verlobung mit Felice Bauer in Berlin, am 12.
Juli Entlobung; im Juli Reise über Lübeck nach Marielyst; Anfang August Beginn
der Niederschrift des Romans "Der Proceß"; während der damit einsetzenden
Schaffensphase entsteht u.a. die Erzählung "In der Strafkolonie".
1915 Im Januar erste Begegnung mit Felice Bauer nach der Entlobung; "Die
Verwandlung" erscheint im Oktoberheft der Zeitschrift "Die Weißen
Blätter"; Carl Sterheim gibt die Preissumme des ihm verliehenen
Fontane-Preises "als Zeichen seiner Anerkennung" an Kafka weiter
1916 Erneute engere Beziehung zu Felice Bauer, im Juli gemeinsamer
Urlaub im Marienbad; Beginn der Aufzeichnungen in Oktavheften; in der
Buchreihe "Der jüngste Tag" des Kurt Wolff Verlags erscheint im November "Das Urteil".
1916-1917 Viele kurze Texte entstehen in Kafkas Arbeitsdomizil in der
Alchimistengasse auf dem Hradschin.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 14 -
1917 Zweite Verlobung mit Felice Bauer im Juli; im August erste
Anzeichen einer Lungenerkrankung, am 4. September Diagnose einer
Lungentuberkulose; im Dezember Lösung der zweiten Verlobung
1917-1918 Genesungsurlaub im nordböhmischen Zürau auf einem von Ottla
Kafka bewirtschafteten Bauernhof; Entstehung vieler Aphorismen.
1919 "In der Strafkolonie" erscheint im Mai bei Kurt Wolff, im Sommer
Verlobung mit Julie Whoryzek; im November entsteht der "Brief an den Vater".
1920 Im April Genesungsurlaub in Meran; Beginn des Briefwechsels mit
Milena Jesenkà; im Mai erscheint bei Kurt Wolff der Band "Ein
Landarzt. Kleine Erzählungen"; im Juli Lösung des Verlöbnisses mit Julie
Whoryzek.
1920-1921 Kuraufenthalt in Matliary in der Hohen Tatra (von Mitte Dezember
1920 bis August 1921)
1922 Von Ende Januar bis Mitte Februar Aufenthalt in Spindelmühle im
Riesengebirge, Beginn der Niederschrift des Romans "Das Schloß"; außerdem
entsteht u.a. "Ein Hungerkünstler"; am 1. Juli wird Kafka pensioniert; von Ende Juni bis
September Aufenthalt in Planà an der Luschnitz (Böhmerwald).
1923 Im Juli erste Begegnung mit Dora Diamant in Müritz an der Ostsee;
im September Übersiedlung von Prag nach Berlin,
Lebensgemeinschaft mit Dora Diamant; es entsteht u.a. der Text "Eine
kleine Frau".
1924 Verschlechterung des Gesundheitszustandes; im März Rückkehr nach
Prag; "Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse" entsteht; im April
Aufenthalt im Sanatorium Wiener Wald in Ortmann (Niederösterreich),
später in der Klinik von Prof. Hajek in Wien, schließlich Sanatorium Dr. Hugo
Hoffmann in Kierling bei Wien; Kafka beginnt mit der Satzkorrektur seines Bandes "Ein
Hungerkünstler"; am 3. Juni stirbt Franz Kafka; er wird am 11. Juni
auf dem jüdischen Friedhof in Prag-Straschnitz bestattet
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 15 -
6 Literaturverzeichnis
Franz Kafka, "Der Proceß", Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, November 1994, Textgrundlage: Kritische
Ausgabe von Malcom Pasley, S. Fischer Verlag, 1990
Franz Kafka, "Die Söhne", Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, August 1989,
Originalausgabe, 13. - 14. Tausend: November 1993
Sekundärliteratur:
Klaus Wagenbach, "Kafka", Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Oktober 1964, 25. Auflage, 276. - 283.
Tausend: Januar 1994
Erläuterungen und Dokumente, "Franz Kafka - Die Verwandlung", Reclam
7 Anmerkungen
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S.192
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S.164
Briefe an Milena S.64 f
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S.172, S.186
Briefe an Felice S. 509
Briefe 1902-1924 S. 347
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S. 191
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S. 166
Tagebücher 1910-1923 S. 224
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S. 198
Tagebücher 1910-1923 S. 222
Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend. 1883-1912. Bern 1958. S. 268f
Briefe 1902-1924 S. 20
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S. 207
Max Brod, Franz Kafka. Eine Biograpghie. Dritte, erweiterte Auflage. Frankfurt am Main 1954 S. 57
Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß S.293 f
Briefe 1902-1924 S.139
Briefe 1902-1924 S.33
Briefe 1902-1924 S.48 f
Tagebücher 1910-1923 S.127
Erzählungen S.317
Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S.175
Briefe an Felice S.87
Briefe 1902-1924 S.451
Max Brod, Franz Kafka. Eine Biograpghie. Dritte, erweiterte Auflage. Frankfurt am Main 1954 S.241
Briefe an Milena S.270
Briefe 1902-1924 S.472 f
Die Verweise bei Kafka-Zitaten beziehen sich auf die bei Schocken und S. Fischer erschienene Ausgabe
(Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 1950f). Bei Zitaten aus nicht publizierten Briefen werden Adressat und
Datum angegeben.
8 Erstausgaben der Einzelwerke
Betrachtung. Leipzig (Ernst Rowohlt) 1913 [ersch. 1912]
Der Heizer. Leipzig (Kurt Wolff) 1913
Die Verwandlung. Leipzig (Kurt Wolff) 1915
Das Urteil. Leipzig (Kurt Wolff) 1916
In der Strafkolonie. Leipzig (Kurt Wolff) 1919
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
- Seite 16 -
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. München, Leipzig (Kurt Wolff) 1919
Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. Berlin (Verlag Die Schmiede) 1924
Der Prozeß. Roman. Hg. von Max Brod. Berlin (Verlag Die Schmiede) 1925
Das Schloß. Roman. Hg. von Max Brod. München (Kurt Wolff) 1926
Amerika. Roman. Hg. von Max Brod. München (Kurt Wolff) 1927
Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß. Hg. von Max
Brod. Potsdam (Gustav Kiepenheuer) 1931
Vor dem Gesetz. Zusammengestellt von Heinz Politzer. Berlin (Schocken) 1935
Haupt | Fügen Sie Referat | Kontakt | Impressum | Nutzungsbedingungen